Zaugg, Simone

EIN STILLLEBEN FÜR DEN ÖFFENTLICHEN RAUM
Künstlerisches Statement versus Illustration

in: Kunststadt Stadtkunst 67, 2020, Hrsg.: Kulturwerk des BBK Berlin GmbH

Auszug aus dem Protokoll der Jurysitzung:

… Abgesehen vom historischen und architektonischen Kontext und der klaren Vorgabe eines permanenten zu realisierenden Kunstwerkes gab es kein vorgeschriebenes Thema für den Wettbewerb "Künstlerische Gestaltung Nöldnerplatz in Lichtenberg". …

… Die eingeladenen Künstler*innen haben ganz unterschiedliche Strategien in ihren Herangehensweisen gewählt: spielerisch, dokumentarisch, irritierend, illustrierend, abstrakt…

(Zum Entwurf von Christian Hasucha)
… Fast wie echt, aber eben doch aus Aluminium steht das Hauszelt von Christian Hasucha an einer Ecke der mittleren Rasenfläche auf dem Nöldnerplatz. Dieses Stillleben für den öffentlichen Raum verbindet die Vielschichtigkeit und Komplexität sowohl dieses spezifischen Ortes als auch allgemeine, aktuelle Fragestellungen und Gedanken, die über Berlin hinausgehen, mit einem Bild. Ein Bild, das schwierige Themen wie Migration, prekäre Wohnsituationen, Obdachlosigkeit aber auch Fragen zur Rolle und Funktion von Kunst im öffentlichen Raum aufgreift und reflektiert. "Himmel über Nöldnerplatz" spricht mit einer klaren künstlerischen Sprache auch politische, persönliche und poetische Seiten an. …

Inspiriert von der sachlichen Präsentation der einzelnen Entwürfe und der Präferenzen und Voten der Bürgerbeteiligung fand eine intensive Auseinandersetzung in der Jury statt, die ergänzt wurde durch Informationen der Sachverständigen und Gäste. Nachdem alle Eingaben kontrovers, aber immer sehr konstruktiv diskutiert wurden, kristallisierten sich im ersten Wertungsrundgang die künstlerischen Ideen von Petra Spielhagen, Gloria Zein und Christian Hasucha als Arbeiten mit einem vielschichtigen, die Wettbewerbssituation überzeugend auslotenden Potential heraus. …

Im Verlauf der angeregten Diskussionen zu den verbliebenen drei Entwürfen entwickelte sich immer stärker das gemeinsame Ziel der Jury, kein illustrierendes künstlerisches Statement zu wählen, sondern auf dem Nöldnerplatz eine künstlerische Intervention zu realisieren, die auch Irritation, Reibung mit dem Ort und seinen Menschen und das Aufgreifen von existenziellen Themen bedeutet. Nach dieser sehr engagiert geführten Diskussionsrunde haben sich die Preisrichter*innen mit einem klaren Votum für ein vielschichtiges Kunstprojekt entschieden, das im Sinne eines künstlerischen Kommentars auch über die Grenzen Berlins und kontextspezifische Aspekte hinaus Potenzial hat. Die Arbeit von Christian Hasucha konnte diesen Ansprüchen mit großer Mehrheit Stand halten. Sie überzeugte die Jury als ein gewagtes, mutiges Statement, das wahrscheinlich nicht nur irritieren wird, sondern im positiven Sinne auch verschiedenste Fragen zum Umgang mit unserer Lebenswelt, mit unseren Mitmenschen, unserem lokalen, sozialen und globalen Engagement aufwirft und provoziert. Die Jury war sich einig, dass der Ort den auch formal sehr gelungenen Eingriff der Arbeit von Hasucha "Himmel über Nöldnerplatz" aushalten wird. Das Ensemble, das sich aus einem nicht begehbaren Hauszelt aus Aluminium mit danebenstehender, nicht funktionstüchtiger Straßenlaterne zusammensetzt – sozusagen einer dreidimensionalen silbergrauen Zeichnung im öffentlichen Raum – braucht vordergründig keine Interaktion und Partizipation, weil sie ganz klar auf eine tiefere und unbequemere Auseinandersetzung, die auf der emotionalen und intellektuellen Ebene geführt wird, abzielt. Auch gerade weil der Wunsch einer künstlerischen Intervention für diesen Platz aus der Bevölkerung kam, werden die Reaktionen auf das zur Realisierung empfohlene "Stillleben" im öffentlichen Raum gespannt und neugierig erwartet.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 76 Himmel über Nöldnerplatz