Dr. Bernhard van Treeck

(Beitrag in:
Street-Art-Berlin
Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999)




CHRISTIAN HASUCHA

³Das Modell: ­Produktion-Präsentation-Depot hat sich überlebt' "




Inmitten einer verkehrsreichen Kreuzung bei den Yorckbrücken geht hochoben auf einem Betonsockel ein Mann. Er ist alltäglich gekleidet; trägt in der Hand eine Mappe. Er geht unverdrossen in zügigem Schritt-Tempo und kommt doch nicht vorwärts. Um ihn herum strömen die Fußgänger. Die Passanten nehmen den Mann irritiert zur Kenntnis. Wenn auf dem Sockel eine Statue stünde, wäre es ein Denkmal. Aber lebendige Denkmäler gibt es wohl nicht, oder? Performancekünstler, an deren Anblick auf den breiten Berliner Promenierboulevards man sich bereits gewöhnt hat, und deren Bewegungen man auch nicht immer versteht, bringen in der Regel keinen Betonklotz mit. Event Marketing für irgendetwas, z.B. für Aktentaschen, scheint der gehende Mann auch nicht zu machen; es fehlt jeder Hinweis auf ein Produkt. Also, so denken die Schlaueren unter den Bürgersteigbenutzern, muß es sich wohl um Kunst handeln. Und sie haben Recht.
Es ist das Projekt "Herr Individual geht", das der Berliner Künstler Christian Hasucha 1987 nicht nur in Berlin sondern auch in Frankfurt/M, Köln und Pécs (Ungarn) realisierte. Wo andere Künstler nett mit Erläuterungstexten hausieren gehen oder zumindest mit einem kleinen Messingschild auf Urheber und Titel hinweisend das Objekt als Kunstwerk definieren, läßt Hasucha den Betrachter kommentar- und hinweislos mit sich allein. Eine ziemliche Frechheit.

In unserer heutigen Dienstleistungsgesellschaft sind wir es gewohnt, sofort mit allem, was uns fehlt, abgefüttert zu werden. Hier aber fehlt vor Ort jede Information, die den Zugang erleichtern könnte. Selbst denken zu müssen gilt nicht mehr als Chance sondern als Provokation. Hasucha ist lästig: Hier muß der Zuschauer selbst denken, sonst hat er nichts von dem Kunstwerk. "Herr Individual geht" ist ein Spiegel einer in normierter Bewegung eingefrorenen Pose, die kein Ziel hat. Plastisch führt Hasucha den Passanten das Wesen ihres Alltags vor Augen, indem er eine simple Begebenheit ausstanzt und in 2,50 m Höhe exemplarisch präsentiert. Wer das Kunstwerk verstanden hat und die Erkenntnisse prüfend auf den eigenen Alltag überträgt, kann dadurch erst den eigentlichen Nutzen ziehen. Eh' man sich's versieht, ist man als Betrachter Teil des Kunstwerkes.

Christian Hasucha ist kein Bildhauer im herkömmlichen Sinne. Wer mit dem klassischen Ansatz sich ihm zu nähern sucht, wird scheitern. Zwar sind seine zeitlich begrenzten Eingriffe in den öffentlichen Raum dreidimensional, doch weisen sie weit über die Bildhauerei im üblichen Sinne hinaus. Sie fordern zur Auseinandersetzung heraus. Man kann um sie herumgehen, sie betrachten, anfassen, zum Teil auch akustisch wahrnehmen. Das Kunstwerk selbst wird man auf diese Art nicht in seiner Gesamtheit erfahren. Wenn die Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters ausreichend geschärft ist, entsteht es nach und nach im Kopf. Bei jedem Betrachter sieht es anders aus. Auch dort ist kein statisches Konstrukt sondern es unterliegt ständiger Veränderung. Die Kunst von Christian Hasucha dient als Katalysator für Denkprozesse, die im besten Falle noch lange nach Abbau der Interventionen weitergehen.

Wenn er bei der Installation "Radio" in einem Kreuzberger Hinterhof diesen einer ständigen akustischen Berieselung aussetzt, dessen Quelle allenfalls nach längerer Suche auszumachen ist, so hat dies viel mit seinem Gefühl für die Atmosphäre dieses Stadtteils zu tun. Ein gewisser Lärmpegel bestehend aus türkischer Musik, Kindergeschrei, Hundegebell und schon am Mittag laufenden Fernsehern herrscht hier im Sommer immer und ist Sinnbild einer Lebendigkeit, die anderen Stadtteilen oft abgeht. Nicht zufällig hat Hasucha den Juli für diese Installation gewählt. Die als selbstverständlich genom-menen und gerade deswegen oft nicht mehr wahrgenommenen Geräusche werden durch die Installation "Radio" dem Betrachter bewußt gemacht. Und vielleicht lernt der Zuschauer erst dadurch, was eigentlich das Besondere dieser Hinterhöfe ausmacht. Bei Materialauswahl und Kunstansatz ist bei Hasucha die Seelenverwandtschaft zu Joseph Beuys deutlich spürbar.

Der Ansatz bei "Partitur" ist ähnlich. Auch hier geht es Hasucha um die Transparentmachung des Besonderen von Alltags-situationen. Er mischt Baulärm und mit Musikinstrumenten erzeugte Rhythmen. Das mag nicht neu sein; Musikgruppen wie Einstürzende Neubauten taten dies schon Ende der Siebziger. Der Kontext, in dem Christian Hasucha diese Alltagsmusik präsentiert, ist aber ein gänzlich anderer. Er wählt einen Parkplatz mit einem Holzgerüst, das nicht sofort als Teil eines Kunstwerkes zu erkennen ist. Wieder ist der Kunsterlebende gefordert. Er muß sich aus Holzgerüst, Baulärm, instrumenteller Musik und Stadtsituation ein schlüssiges Konzept formen, das die Teile zum Ganzen fügt. Er könnte dabei die musikalischen und damit auch anregenden Eigenschaften des ansonsten eher als störend empfundenen Baulärms entdecken. Er könnte erkennen, daß begriffliche Abgrenzungen wie die zwischen Musik und Lärm nur im Kopf stattfinden und nicht real sind. Eine Vielzahl von Gedankenspielen sind denkbar.

Christian Hasucha ist mehr als nur Künstler. Wie ein Naturwissenschaftler beschäftigt er sich kontinuierlich mit der Wahrnehmung und dem Erleben des Menschens. Seine Kunstwerke, falls man sie überhaupt so nennen kann, spielen mit den Mechanismen, mit denen der Mensch seinen Lebensraum erfährt. Nichts wird als gegeben hingenommen. Der öffentliche Raum wird als ständig sich verändernder Organismus erlebt, der zu keinem Zeitpunkt einen einmal erreichten Zustand erneut durchläuft. Chaos und Ordnung dieses Raumes stehen in ständiger Alteration und werden von Hasucha offensichtlich gemacht. Er arbeitet in und mit einem System, das Beuys einmal als "Soziale Plastik" bezeichnet hat.

Anmerkung: Mit kurzen, rein beschreibenden Texten, die die Intervention fernab des Geschehens, z.B. in Publikationen oder Räumlichkeiten des Kunstbetriebes begleiten, öffnet Hasucha den Zugang zu einem neuen Erleben der Stadt. Die Beschreibungen seiner Aktionen sind von ihm selbst verfaßt. Sie wurden unverändert als Bildlegenden übernommen.


    Christian Hasucha: "Radio": Ein radioähnhiches Betongehäuse wird in einem verborgenen Winkel eines Hinterhofes gesetzt. Mittels eingebautem Kassettenrekorder wird eine Tonbandschleife mit einer kurzen Musiksequenz vier Wochen ununterbrochen abgespielt

    Christian Hasucha: "Partitur": Auf einer Freifläche im Stadtgebiet werden die Bestandteile eines 5 m hohen Holzbrückenabschnittes miteinander vernagelt. Durch die Beteiligung mehrerer Handwerker / Musiker entstehen perkussive Sequenzen, die stereophonisch aufgenommen werden. An den folgenden Tagen werden die Sequenzen über zwei auf der Brücke montierte Lautsprecher wiedergegeben. Die einzelnen Hammerschläge können, von geeigneter Stelle aus wahrgenommen, ihren Entstehungsorten akustisch zugeordnet werden und wechseln von ungeordnetem Baulärm zu rhythmischen, konzertanten Schlagfolgen

    Christian Hasucha: "Herr Individual geht" (Akteur: Rainer Homann): In den oberen Bereich eines 2,40 m hohen Betonschachtes ist ein Laufband eingebaut, welches durch einen starken Elektromotor angetrieben wird. Auf diesem Laufband, dessen Geschwindigkeit auf zügiges Schritt-Tempo eingestellt ist, geht ein normal gekleideter Mann mit einem alltäglichen Gegenstand in der Hand. Die mehrstündige Aktion findet vier Wochen lang während der Hauptverkehrszeit statt. Die Anlage befindet sich in der Nähe eines belebten Bürgersteiges in der Innenstadt.