TAUCHERT HANS-JÖRG

"Meine Zeit auf der Mauer"
Zum Projekt JETZT, Köln 1989

Vom 7. 9. bis zum 24. 9. 1989 saß H.-J. Tauchert auf der Kante einer 15m hohen Fassade an einer belebten Kreuzung in Köln. Er saß dort jeden Tag während der Dämmerung und löste von Zeit zu Zeit einen starken Lichtimpuls im großen Kasten neben ihm aus, wobei das Wort JETZT in den Abendhimmel blitzte.

Zum Projekt JETZT von Christian Hasucha

Es begann am Donnerstag, dem 7. 9. 1989 um 17:30 Uhr. Ich bin erschrocken über das riesige Blickfeld, das mit einem Blick nicht aufzunehmen ist. Um alles zu sehen, muß ich sitzend den Kopf drehen, nach oben, unten, links und rechts. Einen Hintergrund gibt es nicht sondern viele, die bis zum dunstig blauen Horizont reichen und mit dem blauen Himmel über mir übergehen. Der vorderste Vordergrund sind meine Knie. Auf dieser Bühne kann ich jeden kommen sehen, ohne daß der mich gleich sieht. Ich schaue nach links in einige Wohnungen hinein. Mit einem Bewohner spreche ich später in den "Venloer Stuben". Er sieht jetzt auch zu mir anstatt auf die Reklame rechts von mir an der Häuserwand, die ihm sagt: "Ich rauche gern". Dabei hatte er sich das Rauchen gerade abgewöhnt.

Eine Frau sieht reaktionslos aus dem Fenster. Ich blieb auch später Luft für sie.

Sofort sehe ich, wer mich bemerkt hat, und kann in Ruhe die vielfältigen Reaktionen studieren. Ich stelle mir dann vor, um welche Art von Person es sich handeln könnte. Am einfachsten zu beurteilen wäre ich selber: Ich würde mich wundern und freuen über den ungewohnten Anblick, der mit dem kurzen Aufleuchten des JETZT verstärkt wird - daseinsverstärkend - eine Reflexion auf den Moment des Wahrnehmens, der alles mögliche auslösen kann. Der Kunsttheoretiker wird das Bild leicht einordnen und wegstecken können, vielleicht auch merken, daß hier die Kunst ausgebrochen ist aus der ungestörten und behüteten und damit langweiligen Galerien- bzw. Museumsatmosphäre in öffentliche, jedem zugängliche Räume. Damit hat Christian Hasucha seine Kunst unanhängiger gemacht, weg von einem elitären, hin zu einem demokratischen Ambiente; für jeden zugänglich, der vorbeikommt.

Der abgestumpfte Bürger wird die Deutung anderen überlassen. "Schon im JETZT?" Das Gegenteil ist der Tod.

Erwartungsgemäß befragt am ersten Tag die Polizei den fotografierenden Christian Hasucha: ich sehe, wie er die Genehmigung zieht. Ein Vorgang, wie von Behörde zu Behörde. Währenddessen das königliche Gefühl, darüber zu sitzen und das JETZT zu dosieren.

Es ist wichtig für mich, die Situation optisch zu beherrschen, d.h., die Menge der Eindrücke darf mich nicht im Kopf überlasten; die Folge wäre ein nicht zu ertragendes Chaos. Ich muss für die Zeit des Sitzens ausgeruht sein. Zwei Meter vor meinen Augen führt ein dickes Befestigungsseil für eine Laterne vorbei. Es verführt zum Schielen. Ich bin angeschnallt.

Es gibt viel zu beobachten: die Eckkneipe, den Tabakladen, den Supermarkt. Ein Mann weist mit dem Finger auf mich, um Bekannte auf mich aufmerksam zu machen. Es ist erstaunlich, wie wenig Menschen genau wissen wollen, was sie sehen. Einmal kommt ein Polizeiwagen und ich sehe, wie ein Polizist aussteigt und im Haus verschwindet. Dann dauert es aber noch eine ganze Weile, bis er oben auf dem Dach angekommen ist. Er sei gekommen, weil jemand anrief und behauptete, ich wolle beim Aufleuchten des Wortes JETZT Selbstmord machen. Aber der Polizist meint selbst, daß vieles dagegen spräche: die Anlage, der Zettel an der Tür: Bitte offen lassen. Er liest die Genehmigung, die wahrlich nicht schnell zu verstehen ist. Nach Registrierung meiner Personalien darf ich weitersitzen. Wo werde ich gespeichert?

Jemand ruft hoch, und er steigt dazu extra vom Fahrrad: "Das Schweigen Duchamps wird überbewertet!" Mir kam dieser Spruch von Beuys schon immer unsinnig vor.

Die Selbstmordvariante wird täglich auf ähnliche Weise mehrmals vorgetragen. Kinder rufen: "Spring doch, spring doch, du Feigling" oder "warum springst du nicht?" Es gäbe sicherlich weitere Steigerungen. Nur einmal höre ich aus einem Auto: "Spring nicht!" Aus fahrenden Autos wagen es oft auch Erwachsene "Spring!" zu rufen. Sonnabend höre ich sieben Mal "Spring!", der aggressivste Tag. Ob es am Vollmond lag? Ein älterer Mann macht mit beiden Armen die Geste eines Turmspringers. Ich soll mich also auf diese Weise da runter stürzen, das wäre nach seinem Geschmack, aber ich glaube, sie hätten es alle ganz gern.

Die andere große Gruppe der Zurufer beschäftigt sich mit der Frage: Was macht der da? Dabei könnten sie sich diese Frage leicht selbst beantworten: Er sitzt hauptsächlich!

Das Nichtstun steht in einem spannungsgeladenen Kontrast zu der Ameisenhektik der Leute da unten. Aus der eigenen Hektik werden sie durch das JETZT herausgerissen und sehen, wie einer an exponierter Stelle nichts tut, eben anders ist als sie (das war ja mal lebensgefährlich). Nichtstun erfreut sich größter Geringschätzung, dabei saß Buddha auch nur da und vor dem Fernseher wird ebenfalls ausgiebig gesessen. Auch die unten im Auto sitzen und die im Flugzeug über mir. Dazwischen ruht der Verkehr JETZT mal. Überhaupt sind die Autos eine Plage: von Montag bis Mittwoch nimmt der Verkehr rapide zu. Jedes Hupen erschreckt mich. Es staut sich am Mittwoch, soweit ich in die Strasse einsehen kann. Ich bekomme Blechreiz. Zu jeder Zeit sind mehr Autos als Menschen zu sehen. Von Donnerstag an nimmt der Verkehr ab und Sonntag ist Ebbe.

Am 18. 9. kommt noch mal die Polizei. Mit Nachdruck ruft der Mann hoch, ich solle runterkommen. Ich muß mich erst abschnallen, was länger dauert und ihm wie eine Weigerung vorkommt. Er fragt, was das da oben solle. Wie schön, daß die Genehmigung und mein Ausweis zur Erklärung ausreichen. Ob ich Alkohol getrunken hätte? Auf dem Dach trank ich, bevor ich zum Stuhl aufstieg, aus einer Mineralwasserflasche. Eine sensationslüsterne Deutung. Danach sitze ich wieder.

Am nächsten Tag treffe ich die Nachbarin zum Dach. Sie beglückwünscht mich zum schönen Wetter und obwohl sich nach hinten raus wohnt, weiß sie, daß zweimal die Polizei kam. Das ist für sie unverständlich. Das müssen die doch wissen auf dem kleinen Revier. Ich zeige Verständnis. Wir wissen weniger voneinander, je mehr technische Kommunikation es gibt.

Ein junger Mann schreit hoch: "Was soll das Ganze da oben?" Jetzt sind die Zuschauer natürlich gespannt; er fragt ja für alle mit. Aber ich bleibe erschrocken regungslos. Er sieht lange Zeit nach oben, auf eine Antwort wartend und ich schaue die ganze Zeit ruhig runter. So bleibt das Rätselhafte erhalten, das Sich-wundern in der Großstadt. Ich beobachte noch oft Gesten des Wunderns. Fahrradfahrer sehen mich, fahren weiter und halten wieder an, so ein verzögertes Wundern findet hier statt. Sich wundern steht jedem frei, der vorbeikommt. Ganz anders ist es mit der mit allen Tricks zum Kaufen animierende Reklame: längst durchschaut, verfolgt sie uns peinigend gleichmäßig überall hin. Im JETZT liegt keine Kaufabsicht zugrunde. Sich selbst genügend, ist es das Wunder in der Stadt. Was die richtige Frage eines kleinen Mädchens: "Warum sitzen Sie da?" beantwortet.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 11 JETZT