Dr. Josef Spiegel
in: "Latente Historie"
Katalog Skulptur-Biennale Münsterland 2005 - Kreis Borken

"Tomorrow never knows" – einige Anmerkungen zu der fünfjährigen Intervention "heute" von Christian Hasucha

Christian Hasuchas Beitrag zur Skulpturbiennale Münsterland besteht aus vier unterschiedlich gewichteten, aber direkt aufeinander bezogenen Teilen. Das Kernstück besteht aus fünf überdimensionalen Betonbuchstaben. Sie sind bis zu drei Meter hoch und bilden das materielle Substrat der Arbeit (Signifikant). Auf der Bedeutungsebene ergeben sie das Wort "heute" mit all seinen vielfältigen Konnotationen (Signifikat).
Eine vom Künstler verfügte spezifische Ortsangabe lokalisiert zweitens die Arbeit auf einer gewöhnlichen Viehweide, die in unmittelbarer Nähe einer viel befahrenen, insbesondere stark von Pendlern frequentierten Landstraße liegt. Die Straße verbindet die beiden Ortsteile der Gemeinde Velen (Velen und Ramsdorf) miteinander.
Die zeitliche Vorgabe für die Dauer des Schriftzuges wurde drittens durch den Künstler auf exakt fünf Jahre streng begrenzt. Nach Ablauf der Frist soll die eigentliche Skulptur abgebaut und ihre einzelnen Elemente zerstört werden.
Der vierte und letzte Bestandteil der Arbeit ist eine Art Rezeptionsanweisung, in welcher der Künstler die auf diesem Streckenabschnitt verkehrenden Busfahrer darum bittet, ihre Geschwindigkeit beim Vorbeifahren an dem Werk nicht zu verringern.
Hasucha bezeichnet seine Arbeit als "eine fünfjährige Intervention". Sie ließe sich ohne Sinnentzug durchaus auch als "skulpturales Ereignis" kennzeichnen. Denn ein wesentliches Kennzeichen ist ihre Dynamik. Zudem bilden ihre verschiedenen Bestandteile in Form von materieller Vorgabe, Wahrnehmung und Wirkung einen solch untrennbaren Zusammenhang, dass sich auf Hasuchas Arbeit streng genommen nur ein erweiterter Skulpturbegriff anwenden lässt. Dies hat u.a. Konsequenzen für die Dokumentation und die Deutung des Werkes. Es ist, so die These, zwar direkt erfahrbar, aber ohne Verlust kaum vermittelbar.

Beispielsweise sind konventionelle Abbildungsformen wie Fotos, die immer Momente des Statischen enthalten, kaum dazu geeignet, das Dynamische der Arbeit "heute" hinreichend genau zu erfassen. Bestenfalls können sie die Richtung einer Rezeptionsmöglichkeit andeuten.
Aber auch dem Interpreten werden schlagartig die Grenzen seines Versuchs vor Augen geführt, "heute" begrifflich beizukommen. Denn eine gesicherte Deutung, die unabdingbar mindestens eine angemessene Rezeption zur Voraussetzung hat, ist zum jetzigen Zeitpunkt schier unmöglich. Schließlich müssen vorab drei Bedingungen erfüllt sein, damit die Arbeit in ihrer vollen Wirkung erfahren werden kann: Erstens ist sie optimal nur aus der Geschwindigkeit eines vorbeifahrenden Verkehrsmittels wahrnehmbar. Zweitens muss diese Form der Wahrnehmung wiederholt, dabei möglichst täglich zur gleichen Uhrzeit und im optimalen Fall über einen Zeitraum von fünf Jahren erfolgen. Drittens sollte der Rezipient nach dem Abbau der eigentlichen Skulptur die geistigen Nachwirkungen der gewonnen Eindrücke etwa in Gestalt von Nach-Bildern oder Nach-Erzählungen zulassen können. Eine Deutung im Vorfeld ist deshalb zwangsläufig spekulativ und kann in weiten Teilen lediglich im Konjunktiv erfolgen.

Inhaltlich zielt Hasucha mit seiner Arbeit zunächst einmal auf das große Erfahrungsfeld der Zeit im Allgemeinen. Er greift damit ein zentrales Thema der Moderne auf, wie es beispielsweise in der Tradition von Marcel Proust literarisch ("Auf der Suche der verlorenen Zeit"), von Henri Bergson philosophisch ("Theorie der Dauer") oder Norbert Elias kulturhistorisch ("Über die Zeit"), um nur einige wirklich bedeutende Entwürfe zu nennen, mit unterschiedlichsten Fragestellungen und Ergebnissen immer wieder bearbeitet worden ist.

Mit dem skulpturalen Ereignis "heute" wird der Zeitbegriff allerdings nicht abstrakt oder absolut definiert, sondern in einem Beziehungsgefüge von Bewegung und Raum ge- und verortet. Die einfache Formel "Zeit gleich Geschwindigkeit mal Weg" drückt in verkürzter Form die angedeutete Abhängigkeit der genannten Koordinaten aus. Neben der Zeit ist somit der aus der Bewegung heraus wahrgenommene Raum ein weiterer wichtiger Gegenstand seiner Arbeit. Ihn konkretisiert der Künstler in der Idee der Landschaft. In Bezug auf den äußeren Rahmen und die luftige Integration der Skulptur in ihre Umgebung formuliert er für den Betrachter letztlich auch den Entwurf eines perspektivischen Landschaftsbildes. Es entsteht aus der Verschmelzung von den bereits vorhandenen Teilen wie Gras, Strauch, Baum oder Himmel und dem neu hinzugekommenen Wort "heute". Letzteres ist überhaupt der Garant dafür, dass ein "Bild" aus den vielen möglichen besonders hervorgehoben wird.

Alle Vorbeifahrenden werden das neu entstandene, semantisch angereicherte Landschaftsbild meistens lediglich verschwommen oder fragmentiert sehen können, da ein unverzerrtes Vollbild nur in direkter Ansicht für Sekundenbruchteile möglich ist. Danach verschwindet das optisch wahrnehmbare Bild augenblicklich wieder. Eine gewisse Unschärfe in der Wahrnehmung ist der Arbeit deshalb eigen. Sie korrespondiert mit dem Gefühl, dass es unmöglich ist, den Moment festzuhalten. Gegenwart erscheint als etwas ständig Vorüberziehendes, will zwar ge-lebt sein, aber kann doch nur über eine nachträgliche Reflexion, also durch Bezug auf das bereits Gewesene, er-lebt werden. Das z.B. von den Pendlern auf der Strecke Ramsdorf – Velen täglich wieder neu gesehene "heute" erscheint deshalb als Metapher für die Nicht-Fassbarkeit des Momentes. Daneben liefert es eher beiläufig ein anschauliches Bild für die Relativität des Zeitbegriffes. Das "heute" über fünf Jahre in unterschiedlichen Kontexten und Zeitfenstern wahrgenommen, erweist sich hierbei als einzige und zugleich als labilste Konstante. Der Vorbeifahrende kann täglich neu erfahren, dass "gestern" bereits "heute" war und "heute" "morgen" sein wird. Mit einfachen, aber ungemein wirkungsvollen Mitteln gibt Hasucha dem komplexen Sachverhalt des Ineinanderaufgehens und Verschränktseins von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen erfahrbaren Ausdruck. Paul Virilio hat den engen Zusammenhang von Zeit, Geschwindigkeit und Wahrnehmung einmal treffend mit der Formulierung "Ästhetik des Verschwindens" umschrieben. Das damit aufgeworfene erkenntnistheoretische Problem, wie sie Gegenwart und Reflektion miteinander aussöhnen lassen, erhält in der "fünfjährigen Intervention" eine konkrete Fassung. Schlussendlich bietet Hasuchas Arbeit sogar einen vorsichtigen Verweis auf die Vergänglichkeit des Daseins schlechthin.

Die vorherigen Ausführungen rücken Hasuchas Arbeit stark in die Nähe von Abstraktion und Gedankenschwere, so, als wäre sein Werk vorrangig dazu angetan, einen philosophischen Diskurs in Gang zu setzen. Doch die philosophischen Implikationen, welche die Auseinadersetzung mit dem Thema Zeit zugegebenermaßen nahezu zwangsläufig mit sich bringen, machen nur einen, wenn auch bedeutsamen Aspekt seiner künstlerischen Intervention aus. Betont sei deshalb, dass es Hasucha ja letztendlich nicht darum geht, seine eigenen Gedanken und Anschauungen sozusagen lehrerhaft an den Betrachter weiterzugeben, sondern die Kunst lediglich als Impulsgeber betrachtet und eingesetzt wird. Sie dient in diesem Sinne dazu, Freiräume für neue Sehweisen und Gedanken beim Andern entstehen zu lassen. Seine Kunst im Allgemeinen und die Arbeit "heute" im Besonderen ist also Anlass, nicht Antwort und deshalb mit Inkonsistenzen und überraschenden Wendungen versehen. So finden Erzählung, ironische Brechung und der Betrachter selbst einen angemessenen Platz in seiner Arbeit.

Letzterer wird beispielsweise als Fahrgast mit seiner eigenen gelebten oder neu erfundenen Geschichte konfrontiert, indem das Abstraktum "Zeit" in die scheinbare oder tatsächliche Banalität der wiederkehrenden alltäglichen Situation verlegt wird. Die Arbeit "heute" wirkt dabei wie ein Assoziationsfeld und wie ein Impuls. Der beschwingte Schriftzug ist dafür nur ein Ausdruck. Er lässt eigene Bilder und Gedanken aufleben, assoziativ z.B. an die gleichnamige (und ebenfalls kleine geschriebene) Nachrichtensendung oder an den weltbekannten, sich mitten in der Landschaft befindlichen Reklameschriftzug "Hollywood". Reflexiv bringt er durchsetzt mit den täglichen kleinen Abweichungen oder Verschiebungen zugleich eine Individualgeschichte der Fahrgäste in Gang. Eher banale Erzählmuster etwa über die relative Gleichförmigkeit der Fahrt können sich mischen mit weitergehenden Gedanken über das Hinweggleiten der Lebenszeit. Der über die kurze, aber ständig sich wiederholende Rezeption des "heute" vollzogene Eingriff in die eingefahrenen Gewohnheiten wird somit zum Auslöser und zur Projektionsfläche für die eigene persönliche Reflexion gerinnen. Im besten Fall entsteht für jeden Fahrgast "im Laufe der Zeit" (Wim Wenders) ein eigener subjektiver Film mit den täglichen Fortsetzungen, Brüchen, äußeren Zufällen und inneren Überlagerungen von persönlichen Erinnerungsfragmenten und privaten Sehnsüchten. Anders formuliert: Die Fahrgäste verbinden ihre eigene verborgene Geschichte zu einer Bild-Ton-Collage. Zeiterfahrung mischt sich mit einer Raum-Bilderfahrung. Diese läuft in jedem Kopf anders ab. Der mögliche akademische Diskurs über die Vergänglichkeit wird somit spielerisch leicht in ein quasi erzählerisches Projekt überführt. Sein Titel könnte lauten: "Betrachtungen eines Pendlers" (Hasucha).

Dieses findet nur ein vorläufiges Ende in einem fulminanten Schlussakkord. Nach fünf Jahren wird die Skulptur entfernt und damit augenzwinkernd im doppelten Wortsinn die Frage aufgeworfen, wo das "heute" eigentlich geblieben ist. Eine Antwort darauf, so die Hoffnung des Künstlers, ist mit Hilfe der Wahrnehmungspsychologie in der Arbeit selbst verankert. Sie sieht fünf Jahre als Zeitraum an, in der "Wünsche und Zielvorstellungen am besten imaginiert werden können, innerhalb derer aber auch das Erinnerungsvermögen am wenigsten verblasst." (Hasucha). Die zeitlich limitierte Skulptur wirkt, sofern die Wissenschaft Recht hat, letztlich geistig dauerhaft. Das "heute", gedacht als offener Zeit-Raum für Ideen, ist langfristig implantiert in der Vision eines unbestimmten und damit zu gestaltenden Morgen.

Vgl. Projektdokumentation Skulptur-Biennale Münsterland 2005 "heute" von Christian Hasucha