Reusch, Dr. Siegfried, Herr Individual geht, Hamburg-Wandsbek, 2015:

Hamburg, Wandsbek Markt,
Mittwoch den 8.5.2015,
13:00 Uhr,
Verkehrsinsel einer vielbefahrenen Verkehrskreuzung.
Ein Mann geht auf der Stelle.
Er ist kein Pantomime, der nur scheinbar geht. Keiner, der einem raumgreifenden Schritt durch eine geschickte Körpertäuschung die Richtung nimmt, keiner, der sein Gehen auf eine Stelle zwingt und nur so tut, als würde er vorwärts gehen wollen.
Er strebt tatsächlich zügig voran!
Und er schwitzt.
Sein Blick ist geradeaus gerichtet.
        Er reagiert nicht auf Ansprache durch Passanten.
Ein stoischer Mensch.
Er geht unbeirrbar geradeaus, unablässig, ohne voranzukommen.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Beharrlich setzt er einen Fuß vor den anderen.
Es gibt keinen Stillstand.
Er geht und geht und geht und geht und geht und geht...
Nach eineinhalb Stunden noch immer kein Stillstand.
Keine Ortsveränderung.
Ein unermüdliches Vorangehen auf der Stelle.
Mal unterstützt er seinen aufrechten Gang mit einer dem Schritt angepassten Pendelbewegung der Arme, mal verschränkt er sie auf dem Rücken.
Er geht zügig.
Und, er geht zwei Meter und vierzig Zentimeter über der Straße.
Es ist keine optische Täuschung, kein Zaubertrick, keine Manipulation mit verborgenen Projektoren. Keine falschen Hintergründe, keine Grünwandtechnik.
Der Mann geht wirklich, schreitet in der Tat zielstrebig voran. Und er geht auf der Stelle.
Er schwebt nicht in der Luft, hängt nicht an einem Seil, seine Beine zappeln nicht frei in der Luft über den Dächern der Autos oder dem Abgrund der Straße.
Er geht mit beiden Beinen auf festem Untergrund. Die Schritte seiner Füße trommeln ohne Unterlass ihren gleichförmigen Takt auf das Dach einer rechteckigen Betonkiste mit Tür.
Ein Trafohäuschen? Ein Materialhäuschen für die Straßenreinigung? War das schon immer da?
Kein Polizist unterbindet sein Gehen.
Darf der Typ das? Einfach gehen, ohne voranzukommen? Ohne sich von der Stelle zu bewegen?
Er geht über(!) dem öffentlichen Raum, über(!) der Verkehrsinsel einer viel befahrenen Kreuzung am Markt in Hamburg Wandsbek – in zwei Metern und vierzig Zentimetern Höhe.
Kein Schausteller verlangt Eintritt von den irritierten Passanten. Nirgends steht ein Hut, ein Geigenkasten, eine Kasse oder ähnliches.
Der Gang des Mannes ist kraftvoll, drückt Zielstrebigkeit aus.
Er geht Vorwärts, in Fluchtrichtung der Straße. Scheinbar unaufhaltsam; nichts steht ihm im Weg, von nichts lässt er sich in seinem gleichförmigen Gehen ablenken. Kein Hupen, kein Fahrradklingeln, kein Gelächter, kein "Hallo du da oben! Was soll das? Was machst du da?" scheint ihn über den Köpfen der Passanten zu erreichen. Und doch kommt er nicht voran.
Den Körper auf die immer gleiche Stelle gebannt, greifen seine Schritte auf dem Dach des Trafohäuschens unentwegt aus in Richtung Straße.
Die Anstrengung treibt ihm mit der Zeit den Schweiß auf die Stirn. Es ist die Anstrengung eines unermüdlichen Gehens, das scheinbar kein Ziel kennt außer sich selbst. Kein Fortschreiten.
        Schreiten ohne voranzukommen.
Metapher für wahnhaftes Fortschreiten, dem das Ziel abhanden gekommen ist?
Ein Bild für bewegten Stillstand?
Eine Metapher für unsere Zeit? Weitergehen, trotz alledem?
Werbung für das Energiesparen? Ein Autogegner?
Sinnbild für den Fortschritt oder die Sinnlosigkeit des Lebens?
Will ein Buddhist zeigen, dass der Weg selbst das Ziel ist?
Gehen und gesehen werden?
Dialektische Entschleunigung der rasenden Postmoderne?
Ist das Kunst?

Der Fußgänger über den Köpfen gibt keine Antwort. Nirgendwo ist ein Schild angebracht. Kein politisches Ziel wird ins Bewusstsein gerückt. Kein Produkt wird beworben. Kein Künstler hat eine Signatur hinterlassen. Am "Trafohäuschen" nicht, am Gehenden nicht, in der Umgebung nicht. Kein Hinweis, nicht der geringste, nirgends.
Dem Gehenden werden aus allen Richtungen Handys entgegengehalten: Das Unbegreifliche wird durch Fotografieren und Filmen mit dem Fetisch der Moderne gebannt, festgehalten und fassbar gemacht. Dem Priester unter dem Baldachin einer Fronleichnamsprozession gleich, wird die Monstranz der Moderne vor das Gesicht gehalten und auf den gerichtet, der einfach nur geht. Er wird dem Objekt alltäglicher Anbetung einverleibt. Der, der einfach nur unablässig geht und geht und geht und geht, das Wunder – die Versinnbildlichung der Sinnlosigkeit – wird verdaut. Verdaut durch leichte Berührung eines glitzernden Trugbilds des erlebter Wirklichkeit. Kein weiteres eigenes Zutun. Ein Gehender wird zu Bits und Bites verdaut, zu .jpg, .tiff, .giff, .mov, .mp4...; ausgeschieden als Funksignale von MMS, SMS...
Ein Mann schreitet in zwei Metern und vierzig Zentimetern Höhe mit festem Blick über einer belebten Kreuzung in Hamburg Wandsbek, scheinbar unbeeindruckt von allen äußeren Einflüssen, Fragen und Anwürfen, gleichgültig gegenüber der Vergeblichkeit seines Tuns gleichförmig, unablässig, zielstrebig und zügig voran – auf der Stelle.
Was sagt uns das?
Es sagt uns, dass ein Mann in zwei Metern und vierzig Zentimetern Höhe mit festem, zielstrebigem Blick über einer belebten Kreuzung in Hamburg Wandsbek scheinbar unbeeindruckt von allen äußeren Einflüssen, Fragen und Anwürfen, gleichgültig gegenüber der Vergeblichkeit seines Tuns gleichförmig, unablässig, zielstrebig und zügig voranschreitet – auf der Stelle.
Ist das nicht genug?

Vgl. Projektdokumentation Nr. 8 Herr Individual geht

Siegfried Reusch
http://www.derblauereiter.de