Andrea Knobloch, WARTEN AUF „JETZT“ in: CHRISTIAN HASUCHA, Öffentliche Interventionen, Verlag für Moderne Kunst, Nürnberg, 2013 (Monografie)

 

 

WARTEN AUF „JETZT“

 

„Eines Tages zu Gast bei einigermaßen fremden Leuten, entdeckte Herr K., daß seine Wirte auf einem kleinen Tisch in der Ecke des Schlafzimmers, vom Bett aus sichtbar, schon das Geschirr für das Frühstück niedergestellt hatten. Er beschäftigte sich damit noch, nachdem er zunächst seine Wirte in Gedanken gelobt hat, daß sie eilten, mit ihm fertig zu werden. Er überlegt, ob auch er selbst das Geschirr für das Frühstück nachts vor dem Zubettgehen bereitstellen würde. Nach einigem Nachdenken findet er es für sich zu bestimmten Zeiten richtig. Ebenfalls richtig findet er es, daß auch andere sich gelegentlich für einige Zeit mit dieser Frage befassen.“[1]

 

„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“[2]

 

 

Schon seit Wochen warte ich auf einen geeigneten Moment. Einen günstigen Augenblick, ein Durchatmen, mit dem das Schreiben eines Textes beginnen kann, der von dem spricht, was Christian Hasucha als Künstler tut, und das er selbst „öffentliche Interventionen“ nennt. Dieser Moment trifft nicht ein. Sämtliche Tricks und Listen verfangen diesmal nicht. Stattdessen versammeln sich fortwährend neue Fragezeichen, und alle bisher aufgenommenen Spuren und Vermutungen verlieren sich im Halbdunkel der ungesicherten Annahmen und allzu gewagten Schlussfolgerungen. Die mir vorliegenden Dokumentationen[3] der künstlerischen Handlungen des Herrn Hasucha wirken klar und folgerichtig. Jederzeit abrufbar finden sich die nunmehr 59 Nummern der Projektreihe der „öffentlichen Interventionen“ als „vollständige Archivliste“[4] auf einer Internetseite[5] im World Wide Web. Ihre Anordnung als Reihe und die immer gleiche Art der Darstellung – einige Fotografien, ein kurzer, manchmal beinahe lakonischer Text, eine Planzeichnung – deuten auf ein Konzept, das von langer Hand verfolgt wird und im Jahr 1981 (Nr. 1, Die Raketen von Budapest) ebenso gültig war wie 2011 (Nr. 59, Joseph-Freiherr-von-Eichendorff-Gedenkpfad). In strenger Ordnung und Übersichtlichkeit scheint alles, was es zu wissen gibt, hier vorzuliegen – nicht mehr und nicht weniger. Mit Bedacht und zuvorkommender Genauigkeit werden Orte, Vorgehensweisen und Konstruktionen aufgezählt. Gerade deshalb drängt sich die Frage auf, was sich dem analysierenden Ordnen und Verstehen entzogen haben könnte. Wird absichtsvoll etwas verborgen, um den Eindruck des Vorbehalts und der Unzugänglichkeit zu erzeugen? Meine Neugierde gilt nun gerade dem, was ich hinter den so hell und klar ausgeleuchteten Bühnen vermute, die Christian Hasucha mit den Dokumentationen seines „Spiels mit den Potentialen des Öffentlichen“[6] entwirft: Ein in Texten und Abbildungen nicht fassbarer Rest, der dem Raster der vom Künstler für sein Tätigsein entworfenen dokumentarischen Lay-Outs entgleitet.

 

Christian Hasucha bezieht Position. Er entfernt sich möglichst weit von institutionellen Räumen, die der Sichtbarwerdung von künstlerischen Artefakten gewidmet sind. Sein Standpunkt ist immer woanders, vorzugsweise am Rande. Die Landschaften zwischen den Städten, die Rückseiten der Metropolen, übersehene und besondere Orte im Stadtraum wecken sein Interesse und fordern ihn zu Vorgehensweisen heraus, die er als „Stadt-Implantate“ und „Attributive Plastiken“ bezeichnet und mit dem Begriff der „Öffentlichen Intervention“ zusammenfasst. Weiträumig sucht er die Rituale des Kunstbetriebs zu umgehen. Einem Vernissagepublikum oder den sogenannten „informierten Kunstfreundinnen und Kunstfreunden“ bleibt nach seiner Auffassung nur die mittelbare und damit eingeschränkte Wahrnehmung seiner Alltags-Verschiebungen. Allein der zufällig ihren Ort Passierende oder sich gewohnheitsmäßig dort Aufhaltende könne sie in all ihren Facetten ausloten.[7] Ansonsten ermöglichten die arrangierten Präsentationen dokumentarischer Materialien einen allenfalls oberflächlichen Nachvollzug der Geschehnisse. Damit wäre die Position umrissen, die Christian Hasucha mir, der Autorin dieses Textes, innerhalb seines Werks überlässt und die mir den Anfang so schwer gemacht hat. Was mir entgeht und gerade deswegen meine Neugierde weckt, ist das Erlebnis des „zufälligen Bemerkens“[8], das mir unmöglich ist. Denn niemals kann mir eines seiner Arrangements beiläufig begegnen. Niemals werde ich von einer „öffentlichen Intervention“ in meinem Alltag derart überrascht, als dass ich nun im Sinne des Künstlers darüber berichten und die vorliegenden Informationen gänzlich durchdringen und interpretieren könnte. Ich bin nämlich immer schon „Kunstfreundin“, vorbereitet und informiert und in Erwartung eines Kunstereignisses unterwegs, und kann deswegen niemals „Passant“ oder „Anwohner“ sein und unvorbereitet darauf stoßen.[9] Unterschlupf in diesem sich dem Kunstbetrieb so selbstgewiss verschließenden Werk finde ich allein in der Gestalt des FT (Fiktional-Teilhabender[10]). Weil ich ganz sicher „eine Person (bin), die an den Seltsamkeiten der jeweiligen Umgebung ebenfalls interessiert ist“.[11] Als FT erhalte ich Eintritt in den Kosmos der „öffentlichen Interventionen“ auf der Suche nach den heimlichen Lustbarkeiten, die in den verschatteten Ecken der in leuchtender Folgerichtigkeit, Ordnung und Konsequenz strahlenden Konstruktionen dieses Werks verborgen werden.

 

„Windbaum“[12] (1982)

Mein erster Besuch als FT gilt einem Londoner Park. Es ist das Jahr 1982 und gerade zog ein heftiger Sturm vorüber. Er hinterlässt eine elektrisierte Atmosphäre. Eben noch in wilder Bewegung liegt nun eine erfrischte Ruhe über allem. Wege und Bänke sind durchfeuchtet, abgerissene nass glänzende Blätter und abgebrochene Äste liegen am Boden verstreut. Im Blickfeld einer Parkbank steckt ein Ast im Boden. Aufrecht stehend, neigen sich seine Zweige in die Richtung eines nicht – oder nicht mehr – vorhandenen Windstoßes. Ebenso wie der Ast weiß gestrichen, halten Schnüre die Zweige in einer Position, die sie wohl für den Bruchteil einer Sekunde, vom Sturmwind niedergedrückt, eingenommen haben würden. Gerne ließe ich mich hier für eine Weile nieder, aber die regengetränkte Sitzfläche der Bank hält mich davon ab. Der blassweiße Geisterbaum konserviert in seiner geneigten Haltung einen Augenblick, den es so nie gegeben hat. Denn während des Sturms war dieser Ast noch Teil eines lebendigen Organismus. In Wipfelhöhe traf ihn eine plötzliche Böe, der splitternde Riss im Holz weitete sich unter seinem im Wind pendelnden Gewicht, bis die fasrigen Reste ihn nicht mehr halten konnten, er niederstürzte und von jemandem aufgenommen, aufgerichtet und in die Erde versetzt wurde. Von jemandem, der Werkzeuge zum Graben und Farbe zum Anstreichen dabei hatte sowie eine Rolle Schnur, ausreichend, um alle Zweigenden mit dem gegenüberliegenden Hang zu verknüpfen und so in diese Richtung zu ziehen. Es war jemand, der vorbereitet war und sich Zeit genommen hat, um ein Geschehen zu erfinden und es nachträglich in die Vergangenheit dieses Ortes einzuflechten. Jemand, der einen Bogen spannte und einen Pfeil abschoss, dessen Fluglinie eine Zeitreise beschreibt, die den erfundenen Moment in eine ungewisse Zukunft verlängert. Jemand, der einen Ast fesselte und in eine Beugung zwang, um ihn dann zu fotografieren und zu hinterlassen. Wem? Mir? Könnte ich jetzt noch hinlangen, ich würde den Ast befreien, die Schnüre lösen und zusehen, wie sich das eben noch lebendige und immer noch elastische Holz entspannt und zurückschnellend wieder aufrichtet.

 

Das unbekannte Vorhergehende und das ungewisse Nachfolgende berühren sich in den Fotografien des „Windbaums“, die ich auf der Webseite von Christian Hasucha finde. Auf drei Ansichten, eine davon in Farbe aufgenommen, sehe ich den geweißten Ast, den Stützpfeiler, der ihn hielt, die Bank, den Hang. Dreimal zeigen sie den „Windbaum“, sich stets zur selben Seite neigend, aus leicht verschobener Perspektive. Drei Augenblicke, in denen sich der Verschluss der Kamera geöffnet hat, das eindringende Licht auf den eingelegten Film traf, die dienstbare Haltung des niedergezwungenen Astes in den fotochemischen Schichtungen des Filmmaterials erstarrte, darüber wiederum Zeit verstrich, die sich festgesetzt hat im Apparat, um darin fortgetragen zu werden, von diesem an einen anderen Ort, an viele andere Orte. Die Fotografien des „Windbaums“ sind heute[13] im World Wide Web präsent. Sie weisen auf ein vergangenes Geschehen. Als hätten vielfache Risse die Gewissheit der Stunden- und Sekundenzeiger zertrennt, als der Ast fiel, jemand ihn aufnahm und derart zugerichtet im Park hinterließ. Risse, die den Fluss der Zeit verwerfen und sich stets und ständig aufs Neue klaffend öffnen. Vielleicht erklärt sich darin die unsagbare Traurigkeit, die mich im Betrachten der Bilder des „Windbaums“ heute überfällt. Von dem ich nicht weiß, wer ihn dort sah, wie lange er so stand, ob jemand anderes seine Fesseln gelöst und ihn fortgenommen hat oder ob er in dieser Haltung, von Pilzen und Käfern angegriffen, irgendwann in sich zusammengesunken ist.

 

„Jetzt“[14]

Das „Jetzt“ leuchtet auf. 1989 in Köln, ein Jahr später auch in Frankfurt – drei Wochen lang, jeden Abend, in unregelmäßigen Abständen. Immer wieder nur wenige Sekunden lang krönt es die frei stehende, 15 Meter hoch gemauerte Seitenwand eines mehrstöckigen Hauses in der Innenstadt. Ähnlich einer Neonschrift, deren Verkabelung kurzschließt und sie in einem ungeregelten Rhythmus aufblitzen lässt. Im Dunkel kaum erkennbar, sitzt ein Mann neben dem elektrisch beleuchtbaren Schriftzug auf einem dort montierten Stuhl. Er ist aus Sicherheitsgründen angeschnallt und hält einen Kippschalter in der Hand. Was ihn dazu anregt, den Schalter umzulegen und ein plötzliches „Jetzt“ in den dämmrigen Abendhimmel zu brennen, bleibt unklar. Er sitzt dort konzentriert und still. Er ruft nicht lauthals hinaus in das Panorama der abendlichen Stadt. Schweigend zeigt sich das „Jetzt“, sobald ein elektrischer Impuls durch die nicht länger unterbrochene Verbindung zwischen Stromquelle und Stromverbraucher jagt. Den Schalter umlegen und „Jetzt“ anzeigen heißt auf etwas weisen, das im Aufleuchten der Buchstaben schon nicht mehr gegenwärtig ist. Das Aufleuchten des „Jetzt“ mag ausgelöst sein von einer Wahrnehmung, die dem Mann auf dem Stuhl überraschend zugestoßen ist. Während des Leuchtens unterstreicht es ein beliebiges Geschehen, das dem Auslösen des Lichtimpulses folgt und so oder ganz anders hätte eintreten können. Dem Mann auf dem Stuhl ist es unmöglich, den Moment zu treffen, der ihn zum Einschalten der Leuchtschrift bewegt hat. Er wird ihn immer verfehlen und stattdessen immer einen anderen markieren. Das wiederholte Umlegen des Schalters, allabendlich während dreier Wochen, ist ein insistierendes, beinahe trotziges Zeigen auf die Unmöglichkeit, einen zwischen Erinnerung und Erwartung hin und her springenden Punkt präzise zu treffen. Es ist ebenso unmöglich wie das Zusammenführen zweier Magneten, deren gleich gepolte Enden sich abstoßen.

 

Den Anwohner trifft das Aufleuchten des Schriftzugs plötzlich und unvermutet. Das Wort erscheint ihm irgendwann zum ersten Mal und bringt ihn aus dem Tritt, weil ein „Jetzt“, das er gerade nicht denkt, sich dazwischendrängt und den Fluss seiner von der Zukunft in die Vergangenheit überspringenden Zeit verwirrt. Für Sekunden erscheint das leuchtende „Jetzt“ vor seinen Augen. Er wird es lesen, erkennen, innehaltend befragen. Im Innehalten zerdehnt sich die Zeit zwischen Stillstand und Fortgang. Ein Verschub öffnet sich, der ungefügt und sperrig hängen bleibt, ein stauendes Hindernis, an dem Sekunden zu Minuten anschwellen. Der eilige Passant streift das „Jetzt“ und sieht womöglich nicht einmal zu ihm auf. Er nimmt zwar eine unmerkliche Veränderung der Helligkeit auf dem Bürgersteig vor ihm wahr, schreibt sie aber gewohnten und bekannten Phänomenen im Stadtraum zu: Vielleicht wird in diesem Moment ein Auto aus einer Parklücke manövriert und die Lichtkegel seiner nun eingeschalteten Scheinwerfer schweifen über den Asphalt. Oder eine Küchenlampe im ersten Stock des Hauses neben ihm leuchtet plötzlich auf. Oder eine defekte Straßenlaterne wirft unregelmäßig flackernde Lichtflecken auf Fassaden und Pflastersteine. Das schweigende „Jetzt“ über ihm drängt sich nicht auf, und er hält nicht inne auf seinem Weg.

 

Der Künstler, zu Gast in Köln und ein Jahr später auch in Frankfurt, hat an beiden Orten eine vertrackte Konstruktion bereitgestellt. Für die Dauer von drei Wochen wartete in seinem Auftrag ein Mann, festgeschnallt auf einem Stuhl 15 Meter hoch über der Stadt, auf den „richtigen“ Moment, dem er sich selbst nie überlassen konnte, weil er diesen Moment markieren wollte und ihn darüber stets versäumte. Das „Jetzt“ ist nicht zu treffen, die Zeit schlägt eine Volte und entgeht der Regie des Künstlers. Dieser Moment der Re-Volte, der Verkehrung der entworfenen Situation und des Überspringens aus den vorgefassten Erwartungen, ist der Moment, auf den das künstlerische Wollen zielt, der aber willentlich nicht zu erreichen ist. In diesem Moment löst sich eine Spannung, die sich im druckvollen und überlegten Vorantreiben der Vorbereitungen auf ein vorab entworfenes Geschehen hin aufbaut. Mit aller Kraft und Hingabe wird es seiner Realisierung entgegengetrieben bis an den Rand über dem Abhang, an dem es sich löst aus der Apparatur der Absicherungen und Vorwegnahmen, sekundenlang in einem fragilen Gleichgewicht verharrt, bis es in eine betörende Gegenwärtigkeit kippt und sich ereignet. Obwohl Initiator und Auslöser, ist der Künstler nunmehr ebenso „betroffen“ von diesem Ereignen, das sich seiner Regie entwindet wie ein mögliches Publikum. Er wohnt dem bei, es stößt ihm zu – ebenso, wie es dem Mann auf dem Dach, den zufällig Passierenden, den Bewohnern des Hauses und den eingeladenen und informierten „Kunstfreundinnen und Kunstfreunden“ zustößt oder entgeht, weil der Zufall abseits ihrer Wege einschlägt. Jede/r wird andere Facetten des Ereignisses wahrnehmen, das kein Vorher oder Nachher mehr ausweist, sondern als unabwendbares „Jetzt“ alle Sinne durchkreuzt.

 

Adsorptions-Vlies[15]

Als Fiktional-Teilhabende bestelle ich im Jahr 1995 bei Christian Hasucha ein „Adsorptions-Vlies“ und montiere es nach Anleitung in meiner Wohnung. Der Halbkreis aus weißlichem Filtermaterial wird in eine horizontal an die Wand geschraubte Metallhalterung geschoben. Fünf Jahre später erhalte ich unaufgefordert eine transparente Haube, die sich ebenfalls an der Halterung befestigen lässt und verhindert, dass weiterhin Staub und Mikropartikel aus der Wohnungsluft auf das Vlies niedersinken und sich dort anlagern. Fortan fallen sie auf die Oberfläche der Haube und lagern sich in meinem Staubtuch an. Freunde und Familienmitglieder haben sich über die seltsame Vorrichtung gewundert, darüber hinaus wurde sie niemals von einer Öffentlichkeit außerhalb meiner Wohnung wahrgenommen. Der Künstler hat mich nie besucht, um festzustellen, ob ich seine Anleitung „richtig“ interpretiert und das Vlies in der von ihm vorgesehenen Weise angebracht habe.

 

Über hundert dieser Vliese wurden bundesweit versandt. Womöglich werden nunmehr in über hundert Wohnungen solche staubgesättigten Matten aufbewahrt und unter durchsichtigen Hauben ausgestellt. Der Vorgang der fünf Jahre währenden Partikel-Sammlung ging überall diskret vonstatten. Unmerklich, aber stetig verdunkelte sich das zunächst hell weiße Vlies, unhörbar leise landeten Fasern und Schwebeteilchen auf dem weichen Untergrund, und kaum spürbar nahm sein Gewicht im Lauf der Zeit um wenige Mikrogramm zu. Zwischen gesetztem Anfang (Montage des Vlieses) und Ende (Montage der Haube) entfaltete sich ein Prozess der Anreicherung, dessen Fortschreiten sich der sinnlichen Wahrnehmung nahezu vollständig entzog. Dass doch etwas geschah, musste erzählt und vorgestellt werden. Das „Adsorptions-Vlies“ ist ein Gedankenexperiment mit einer materiellen Auslagerung als stellvertretendem Hinweis auf einen Vorgang, der – begrenzt auf die wenigen Quadratzentimeter des halb tellergroßen Vlieses – willkürlich angehalten wurde, ansonsten aber mit unerbittlicher Stetigkeit immerwährend fortschreitet. Es ist die peinliche Offenbarung des immer schon aktiv und passiv Beteiligt-Seins: Der Dreck des städtischen Getriebes lässt sich von einer Haustür nicht aufhalten, er haftet an den Kleidern, wird umhergetragen, irgendwo ein- und woanders wieder ausgeatmet und durchbricht beharrlich sämtliche Schutzwälle. Das Innere einer Wohnung ist der Ort, an dem sich das Öffentlich-Sein seiner Bewohnerinnen und Bewohner staubig niederschlägt. Innerhalb der Wohnung ist es das Wohnzimmer, das auf die Möglichkeit des Besuchs, des plötzlich und unvorbereitet Aufgesucht-Werdens spekuliert. Ein Diorama, sorgfältig kalkuliert in seiner Wirkung, um sich selbst in Szene zu setzen und gegebenenfalls das Schauspiel der Gastlichkeit zur Aufführung zu bringen. Die Platzierung der Möbel, die Art der Dekorationen und Draperien, die Beleuchtung und die selbst gesetzten Verhaltensmaßregeln für das Bewohnen dieses Raums richten sich an ein Publikum, das latent immerzu anwesend ist. Das sogenannte „Private“ lässt sich dem „Öffentlichen“ kaum sinnvoll entgegenstellen, denn es ist durchdrungen von und bezogen auf Erfahrungen von Öffentlichkeit und umgekehrt. Die Konstruktion eines Außen oder Außerhalb in Abgrenzung zu Bezirken des ausschließenden Inneren wurde längst mitgerissen in den Verwirbelungen zwischen öffentlich zur Schau gestellter Privatheit und einem ausufernden öffentlichen Erscheinungsraum, der auch die intimsten Lebensbereiche überschwemmt und Grenzen verwischt, wenn nicht gar gänzlich verschwinden lässt. Um eine bestimmte Position zu markieren, muss auf dem in den Wellen treibenden Boot beständig gegen die Abdrift durch Strömung und wechselnde Winde angerudert werden. Der Ruderer setzt seine Kräfte ein, um das Boot zu steuern, und ist gleichzeitig Kräften ausgesetzt, die seine Anstrengungen befördern oder umlenken. Das Wahrnehmen dessen, was ist und was geschieht, ist ein Vorgang, der sich weder willkürlich beginnen noch anhalten lässt, sondern fortgesetzt stattfindet. Die sich unaufhaltsam erweiternde Versammlung von Sinneseindrücken und Wahrnehmungen ist in unsteter Bewegung begriffen. Ihre Partikel berühren, überschreiten oder meiden die kurzfristig eintrocknenden und dann wieder aufweichenden Grenzmembrane zwischen Verschweigen und Offenbarung, Vergessen und Erinnerung. Unhintergehbar beteiligt und in aller Offenheit aufgespannt wie das Vlies in seiner Halterung, werden wir immerfort von ihnen belagert. Womöglich berühren sie dabei zufällig eine sensible Verknotung, die sich plötzlich löst und zu Handlungen herausfordert, die – verflochten in andauernd veränderte Umgebungen und Geschehnisse – manchmal zu einem Kunst-Ereignis verdichtet und zur öffentlichen Anschauung gebracht werden können.

 

Die Insel[16]

In Berlin-Neukölln besuche ich als „FT“[17] im Sommer 2006 „Die Insel“. Der grasbewachsene, sanft von der Mitte zu den Rändern hin abfallende, aufgeständerte grüne Hügel erhob sich in den beiden folgenden Jahren auch im belgischen Lier und im schweizerischen Fribourg. In der Mitte der Städte ist das Meer, das die in drei Metern Höhe montierte „Insel“ umschließt, der Luftraum, der sich zwischen den aufragenden Wänden der benachbarten Gebäude, über dem Pflaster des Marktplatzes oder dem grau plattierten Bürgersteig ausbreitet. Die Kontinentalplatte, der sie aufsitzt, ist das kleine Grundstück unter ihr, das der Allgemeinheit gewidmet ist und über das, dem Lauf der Sonne folgend, während des Tages ihr Schattenbild kriecht. In Berlin-Neukölln erwartet Christian Hasucha zu bestimmten Stunden am Morgen oder am Abend seine Gäste. In Lier und Fribourg kann man an ausgewählten Tagen einige Stunden auf der „Insel“ reservieren und nach Belieben nutzen. Einen Anlegesteg gibt es nicht, dafür eine steile Leiter und eine kleine Luke, die sich aufklappen lässt und durch die man in den Himmel über der „Insel“ hineinklettern kann, um dann im grünen Gras die kleine Flucht, den programmierten Ausstieg aus dem Stadtbetrieb zu genießen. Break heißt das in der englischen Sprache, ein kalkulierter Bruch im Alltäglichen. „Die Insel“ beschreibt einen Rückzugsort, eine stille Oase im treibenden Sand der Unzulänglichkeiten. In der Überschaubarkeit eines eng begrenzten Raumes scheint die immerwährende Möglichkeit der unvorhersehbaren Begegnung mit dem Fremden, die urbanes Leben kennzeichnet, handhabbar und gemildert. „Die Insel“ wird mit dem Betreten und Besetzen als eigenes Terrain verhäuslicht und besessen, der Dazukommende findet sich in der Rolle des immer schon erwarteten Gastes, das überraschende Eintreffen des Anderen ist in eine vorab getroffene Verabredung gewendet. „Die Insel“ des Herrn Hasucha löst das Versprechen der erholsamen Zurückgezogenheit trotzdem nicht ein. Sie bleibt dem an- und abschwellenden Getöse der Stadt und all ihren entnervenden Zumutungen ausgesetzt. Und sie exponiert die zeitweiligen Bewohnerinnen und Bewohner, hebt sie heraus in die Sichtbarkeit eines auf dem Marktplatz aufgestellten Varietés. In steter Erwartung eines Publikums verwandelt sich jede unwillkürliche Geste, jede spontane Bewegung in die Vorführung des Besonderen. Ein inselhafter „Living Room“, dessen vorgebliche Landschaftlichkeit durch ein umlaufendes Geländer gebrochen wird, das Abstürze nicht nur verhindert ,sondern vor allem die Möglichkeit des Unfalls / des Unvorhersehbaren wieder in das Handlungsspektrum dieses Stadt-Wohnzimmers einführt. Die Einrichtung der „Insel“ in das Gefüge der Stadt als architektonisch gefasstes Landschaftsfragment und ihr mit der kreisrunden Form angedeuteter Platzcharakter täuschen nicht darüber hinweg, dass hier auf den Rückzugsraum des Privaten gedeutet wird, der aus seinem Versteck zwischen undurchsichtigen Mauern und spiegelnden Scheiben hervorgeholt und in die Sichtbarkeit des städtischen Lebens verpflanzt wurde. „Die Insel“ ist die verdichtete Verbildlichung einer von Momenten des Öffentlichen durchzogenen privaten Sphäre. Auf der „Insel“ wurden Speisen zubereitet, man traf sich zum Essen mit Freunden oder der Familie, telefonierte, las ein Buch, ruhte sich aus, blieb über Nacht und schlief dort. All das sind Tätigkeiten, die dem Wohnen zuzurechnen sind. Und das Wohnen ist ein prinzipiell exklusiver Vorgang, der sich aus der permanenten Verfügbarkeit und Ansprechbarkeit des öffentlichen Lebens zurückzieht. All das sind aber auch Tätigkeiten, die zunehmend und freimütig öffentlicher Wahrnehmbarkeit ausgesetzt werden. Der Grillabend mit Freunden im Stadtpark, die Nutzung mobiler Telefone ständig und überall ungeachtet der Intimität der dabei verhandelten Inhalte, nachmitternächtliche Feiern auf den stillen Straßen der Stadt, all das weist darauf hin, dass die Nutzung des verfügbaren Stadtraums ihre Beschränkung heute allenfalls entlang ungünstiger Witterungsverhältnisse findet. Das vielerorts eingeforderte „Recht auf Stadt“ wird vielfach als ein Recht auf den beliebigen Gebrauch städtischer Räume missverstanden, die in der Stadtgesellschaft mittlerweile allenfalls den Status einer WG-Küche genießen: Von jedermann ausgiebig verbraucht und genutzt, wird die Verantwortung anderen überlassen. Sind die Grenzen des Erträglichen überschritten, kommt es zu folgenlosen Krisensitzungen und aufgeregten Putzaktionen. So gesehen, wirkt das saftige Grün der „Insel“ wie ein Brennglas, in dem die abgegriffenen, aber immer noch verführerischen Argumente der „Wiederaneignung“ und „Rückeroberung“ des der Res Publica und dem Ereignis des Öffentlichen gewidmeten Stadtraums in Rauch aufgehen. Isoliert und hervorgehoben wird eine Praxis der Vorführung des „Privaten“, die das städtische Miteinander bereits durchsetzt hat und „Öffentlichkeit“ lediglich als Gefäß formuliert, in dem sich isolierte Individualitäten ansammeln, ohne sich tatsächlich zu versammeln. Masse und relative Differenz der sich öffentlich zeigenden Städterinnen und Städter ersetzen die überraschende Begegnung mit dem Fremden, das als Imagination und Spektakel, als modischer Dress oder exotisches Ambiente mit Kübel-Palmen und Sandstrand ausstaffiert, gezähmt und verbraucht wird.

 

Hat man die grüne Plattform erstiegen und die schwere Luke in die dafür vorgesehene quadratische Aussparung zurückfallen lassen, ist man keineswegs entkommen, sondern erst recht ausgesetzt und eingepfercht. Die in der Stadtgesellschaft präsenten und wirkenden Ordnungen der regulierenden Verwaltungsinstanzen und der wirtschaftlichen Verwertung ebenso wie die vielfältigen Praxen der sozialen und politischen Nutzungen des Stadtraums lassen sich nicht aussperren. Sie lassen sich allenfalls überlisten. Durch kluge Vorbereitung und Vorwegnahme eventueller Bedenken der amtlicherseits zuständigen Entscheidungsträger gelingt es Christian Hasucha immer wieder, seine ambivalenten und befragenden Konstellationen in den geregelten Alltag einzuschleusen. Die Präzision seiner technischen Konstruktionen und Pläne und die Verlässlichkeit seiner Fundamente gehören, ebenso wie neongelbe Warnwesten und rotweiß gestreiftes Absperrband, zu einem Instrumentarium, das den verwaltenden Instanzen hilft, das Spekulative und Unvorhersehbare seines künstlerischen Tuns zu übersehen. Die temporären Maßnahmen des Herrn Hasucha locken in eine konstruierte Situation und verdrehen gleichzeitig die damit erzeugten Erwartungen. Sie weisen auf einen Moment und treffen einen ganz anderen. Sie leiten Augenblicke[18] auf ein Abstellgleis, um sie an einem bestimmten Tag zu bestimmter Stunde wieder zu entlassen. Die flirrende Fata Morgana einer Auszeit, einer angehaltenen Zeit[19] setzt Gegenwartsmomente frei, die kreiselnd ihre Bahnen ziehen und nicht mehr einzufangen und zu einem Ganzen zusammenzufügen sind.

 

Kunst ist keine weiße Weste, die unbefleckt durch die Welt getragen wird. Sie ist vielmehr die Schere, die den Stoff zerschneidet und den Blick auf Unbemerktes öffnet, und die Nadel, die sticht und vernäht und so immer wieder andere, überraschende Nachbarschaften beschert und unerwartete Begegnungen ermöglicht. Wie ein am Vorabend gedeckter Frühstückstisch, von dem niemand sagen kann, ob und wer hier am nächsten Morgen Platz nehmen und aus der sorgfältig mit nach rechts gedrehtem Griff platzierten Tasse trinken wird. Was bleibt, ist ein Anfang, der zu einem unvorhersehbaren, machtvollen Geschehen anschwillt, das mit unwiderstehlicher Wucht unumkehrbar einbricht in die trügerische Gewissheit kontinuierlicher Verhältnisse.

 

 

 

 

 



[1] Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Über die Störung des „Jetzt für das Jetzt“, Suhrkamp Taschenbuch 16

[2] Antwort des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski auf die Zwischenfrage des Hamburger Bild-Zeitungsreporters Peter Brinkmann nach dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Reiseregeln für DDR-Bürger auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989 gegen 18:53 Uhr, Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Mauerfall#Mauerfall, Zugriff 19.11.12, 9:55 Uhr

[3] http://www.hasucha.de und Sukzessiv-Dokumentation in 17 Bänden des Kunstforums (beginnend mit Band 113, endend mit Band 159), diverse im Selbstverlag herausgegebene Mini-Dokumentationen und Postkarten zu einzelnen Projekten

[4] zitiert nach http://www.hasucha.de/index3l.html, Abruf 22.08.12, 10:54 Uhr

[5] http://www.hasucha.de

[6] Peter Funken, Monografie Christian Hasucha, Kunstforum international, Bd.192, 2008, in: Christian Hasucha 16 Poller, Hrsg. von inter-edition, Berlin 2009

[7] „Der Pulk der eingeladenen Kunstfreunde erweist sich am Interventionsort als Fremdkörper, zugereist und lediglich in der Lage, sich von den Komponenten des Eingriffes und seines Wirkungsfeldes einen distanzierten Überblick zu verschaffen. Das zufällige Bemerken rätselhafter Dinge und Ereignisse bleibt Passanten und Anwohnern vorbehalten.“ Christian Hasucha: Über die Autonomie der Intervention (Katalogtext zur Dortmunder Intervention „WEGE“ und gleichzeitiger Ausstellung „ORTE“ im Dortmunder Kunstverein, 1995)

[8] siehe Anm. 4

[9] Diese Ansicht der Autorin bezweifelt der Künstler und stellt sie zur Diskussion, Anm. der Red., 07.03.2013

[10]Wie entwickelt sich eine Intervention? Abgesehen von professionellen Beteiligten, mit denen ich mich intensiv austausche, gibt es jemanden, den ich den Fiktional-Teilhabenden (FT) nenne. Der FT ist meine Prüfinstanz bei der Entwicklung der Intervention. Je nach Variation versuche ich mir seine Haltung dazu vorzustellen. Als FT stelle ich mir eine Person vor, die an den Seltsamkeiten der jeweiligen Umgebung ebenfalls interessiert ist und die dann zum Beispiel zufällig an die Information mit den 16 Pollern gerät und sie in ihrem mentalen Depot für Merkwürdigkeiten ablegt.“ Christian Hasucha in: Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher, http://www.hasucha.de, Abruf am 24.08.12, 10:23 Uhr

[11] siehe Anm. 9

[12] Christian Hasucha, „Windbaum“ (Park in London,
vom Sturm abgebrochener Ast, Paketschnur, Acryl weiß, 1982)

[13] am 24.08.2012

[14] „JETZT. Auf einer im oberen Bereich frei stehenden Fassadenmauer sitzt ein Akteur für die Dauer von 3 Wochen allabendlich auf einem metallenen Stuhl. Neben ihm ist ein rechteckiger Kasten mit verglaster Vorderfront installiert. Von Zeit zu Zeit löst der Sitzende mittels Kippschalter einen Lichtimpuls im Kasten aus, wobei das ausgestanzte Wort JETZT in den Abendhimmel strahlt.“ Realisiert in Köln (1989) und Frankfurt am Main (1990), Quelle: http://www.hasucha.de/intervention_11/dokumentationl.html, Abruf am 26.08.12, 8:18 Uhr

[15]Adsorptions-Vlies: Interessierten wurde auf Anfrage ein Bausatz des Adsorptions-Vlieses und eine Montageanleitung zugesandt. Fünf Jahre lang sollte das Vlies der Wohnungsluft ausgesetzt werden. Schwebestoffe wie Staub, organische Partikel, Mikroorganismen und synthetische Fasern konnten sich anlagern. Eine „Besiedelung“ fand statt. Nach Ablauf der fünf Jahre erhielten die Teilnehmer einen transparenten Schuber, mit dem der Adsorptionsvorgang eingeschränkt werden konnte. Die „Siedlung“ erhielt ihr eigenes Reservat. Versandt wurden über 100 Vliese, die Anzahl der realisierten Installationen ist unbekannt.“ Zitiert nach http://www.hasucha.de/intervention_22/dokumentation.html, Zugriff 27.08.12, 10:57 Uhr

[16] „Die Insel: Ein flacher, grasbewachsener Hügel schwebt – von einigen Stützen gehalten – in 3 m Höhe über dem Straßenpflaster. Ein Mann, der aus der Nachbarschaft zu kommen scheint, packt jeden Morgen dort oben sein Frühstück aus. Auch abends ist er da. Ab und zu bekommt er Besuch.“ (http://www.hasucha.de/intervention_49/dokumentation.html, Zugriff: 18.11.12, 12:51 Uhr)

[17] siehe Anm. 9

[18] zum Beispiel Intervention Nummer 54: „maintenant Drei Monate lang gab das 50 m lange Schwimmwort der Gegenwart am See einen Untertitel.“ (http://www.hasucha.de/intervention_23/dokumentation.html, Zugriff 14.11.12, 17:38 Uhr)

[19] zum Beispiel Intervention Nummer 58: „JETZT und der Fluss Anders als JETZT II (Projekt 23) ist diese steinerne Luftwort-Umfassung dauerhaft positioniert. Der Fluss fließt träge daran vorbei. Das Grün der Böschung wird ab und an amtlicherseits zurückgeschnitten.“ (http://www.hasucha.de/intervention_29/dokumentation.html, Zugriff 14.11.12, 17:47 Uhr)