Alexandra Kaurowa

Die verhaltenen Interventionen des Christian Hasucha

St. Petersburg, August 1993
(Erschienen im Magazin "SMENA", St. Petersburg, 1993
Aus dem Russischen von Maria Marginter)




Gewissermaßen im Geiste unserer Stadt verwandt: metaphysisch, poetisch und romantisch war die Aktion, die der Kölner Künstler Christian Hasucha in St. Petersburg veranstaltet hat. Er wollte damit nicht seine besondere Beziehung zur russischen Wirklichkeit darstellen, seine Veranstaltung ließ sich auch nicht auf ein Spiel mit politischen Hintergedanken und Symbolen ein, wie es heute gern getrieben wird. Das "public diary" ist eins Glied in einer Kette von Projekten, die der Künstler in Deutschland und über seine Grenzen hinaus verwirklicht. Das strategische Grundprinzip der "öffentlichen Interventionen" ist erhalten geblieben: Im städtischen Raum wurden Artefakte verteilt und ein Fluß von Ereignissen provoziert. Eine wesentliche Besonderheit der Petersburger Aktion aber war die Tatsache, daß sich hier der Kontext, der für die Arbeiten von Hasucha sehr wichtig ist, deutlich von dem im westlichen Europa unterscheidet.

An den Orten, die von den Petersburger Teilnehmern an seiner Aktion ausgesucht wurden, stellte Hasucha Objekte auf: zehn weil3lackierte, schmucklose Stahlschemel, die irgendwie an Krankenhaus erinnerten. Die Füße der Schemel waren in Asphalt gegossen, sodaß man die Sitzgelegenheiten unmöglich entfernen oder auch nur verrücken konnte. Von offizieller Seite blieben die Aktivitäten des Künstlers unbemerkt, er hatte auch niemanden darüber informiert, weit er ahnte, damit auf Unverständnis zu stoßen.

Die Installation der Schemel im Zentrum von St. Petersburg, in den ältesten Bezirken der Stadt, muß auf viele Städter befremdend gewirkt haben: ein Schemel am Ufer der weiten Neva, vor dem Hintergrund der steifen Architektur der Kunstakademie, eingerahmt von den Prunkfassaden staatlicher Gebäude aus der Zeit Peters 1. und auf einem kleinen Platz neben dem ehemaligen Denkmal der unbekannten Pioniere. Der klare Umriß eines Schemels nimmt sich im Fluchtpunkt einer Lindenallee aus, auf einem Dach vor den wechselnden Farben des Abendhimmels. Der Schemel als Stichwort, als Punkt, als Fragezeichen. Eigentlich gehört er in die Küche. Hasucha aber wollte ihn ins Zentrum der Ereignisse setzen. Somit ist der Schemel Hauptdarsteller und Urheber des Intermezzos auf der Straße.

Im Laufe von fünf Tagen saß zu bestimmten Zeiten ein "Beobachter" auf jedem Schemel und zeichnete alle wahrgenommenen Ereignisse auf .Allerdings nicht als protokollarisches Stenogramm: die Eintragungen auf den Blättern des "Tagebuches" waren äußerst privater Natur. Der auf dem Schemel sitzende Schreiber wurde zum Außenseiter, zum "fool on the hill" wie es bei den Beatles heißt. In dieser Position mußte er sich auf seine eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen konzentrieren.

Die Tagebücher waren daher alle unterschiedlich. In jedem von ihnen kam die Gemütsverfassung und die Stimmung des einzelnen Schreibers zum Ausdruck. Der "Beobachter", der zwei Stunden lang inmitten eines stark frequentierten Platzes gesessen hat, widmete zum Beispiel den größten Teil seiner Aufzeichnungen den Spatzen, die um seine Füße Brotkrumen aufpickten. Das Tagebuch eines anderen war in Gedichtform gehalten, ein Dritter verfolgte mit Sekundengenauigkeit den Ablauf der Zeit usw.

Nachher sammelte Hasucha die Tagebuchblätter ein und befestigte sie an Bäumen, Pfosten und Hausmauern in unmittelbarer Nähe zu den "Objekten". Auf diese Weise wurden die Gedanken und Eindrücke der Aktionsteilnehmer veröffentlicht. Das fünftägige "Belauschen" und "heimliche Beobachten" wurde gewissermaßen kompensiert. Die Situation veränderte sich wie in der Möbiusschleife: als die Grenze der Reflexion der Ereignisse im Bewußtsein des "Beobachters" und ihre Reproduktion auf den Tagebuchseiten vage wurde und sich fast verwischte. Als das, was verborgen bleiben sollte, sich nach außen kehrte und wieder Teil des städtischen Raums wurde.

Die Stadt selbst blieb einer solch unerwarteten Invasion in ihr Leben gegenüber nicht gleichgültig. Hasuchas Idee wäre ein steriler Designerentwurf geblieben, wenn sie nicht Reaktionen von Seiten der Petersburger provoziert hätte. Wie die Wellenkreise, die ein Steinwurf ins Wasser verursacht, verbreiteten sich Gerüchte, Erklärungen, Mutmaßungen. Das Auftauchen der Schemel wurde von den Städtern begrüßt: "Wenigstens gibt es was zum Sitzen! Na und, soll er stehen, stört doch niemanden!" Es ergab sich unter anderem folgender Dialog: "Warum haben sie denn die Stühle aufgestellt?" -"Einfach so." -"Na recht so, brav seid Ihr." Das Aufeinandertreffen rund um die Schemel erinnerte an die inszenierten "Vorfälle" des Petersburger Dichters Daniil Charms, mit dessen Arbeiten Hasucha übrigens sehr vertraut ist. Zwei Bewohner aus umliegenden Häusern legten neben den Schemel ein Stück Eisenbahnschiene, um ihr Verständnis für moderne Kunst zu zeigen. Die Sitzfläche eines anderen Schemels war zwei Tage nach der Installation mit bunten Ornamenten bedeckt - das jungfräuliche Weiß der Schemel hat viele nicht gleichgültig gelassen. Ein weiteres von Hasuchas Objekten wurde brutal mit klebriger schwarzer Farbe beschmiert. Die Gleichheit, Weiße und solide Verarbeitung der Objekte zeigt gewissermaßen den Unterschied zwischen den Mentalitäten auf: ein russischer Künstler wäre wohl nicht mit einer derartigen Präzision an die Aktion herangegangen.

Im Verhältnis zwischen dem "Beobachter" und den Passanten kam das ganze Register menschlicher Emotionen zum Ausdruck: von müßiger Neugier und Spionageverdacht bis zu vollem Vertrauen. Letzteres zeigte sich darin, daß sich um den Sitzenden eine Menschenmenge in angeregtem Gespräch versammelte und Leute von ihrem Leben erzählten als sie sahen, daß ihre Worte notiert wurden.

Die Arbeiten von Hasucha leben weiter in Zeit und Raum. Vorläufig springen die Schemel noch als Irritation ins Auge. Bald aber wird man sich an sie gewöhnen, bemerkt sie nicht mehr und verwendet sie vielleicht in Zukunft in anderer Form.

Christian Hasuchas Konzept - logisch aufgebaut und konsequent umgesetzt - hat sich natürlich in unseren kulturellen Kontext eingefügt. Vor dem Hintergrund der nichtendenwollenden Umweltzerstörung (die in unserer Stadt eine besonders zerstörerische Kraft entfaltet) wirkt nichts beständiger als eine einfache Sitzgelegenheit. Im Zustand innerer Verwirrung und beim Fehlen irgendwelcher Orientierungshilfen scheint die Aufforderung besonders geeignet, sich hinzusetzen und über das nachzudenken, was rundherum passiert.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 17 Public Diary