Susanne Jakob

Geräte zur Annäherung

(Text aus dem Begleitheft, herausgegeben von der Galerie im Kornhaus, Kirchheim unter Teck, 1997)

CHRISTIAN HASUCHA

Frau K. besucht Kirchheim unter Teck


Auf Einladung von C. Hasucha reist Susanne K. am 14. April 1997 nach Kirchheim unter Teck. Seit dem frühen Vormittag schlendert sie durch das verwinkelte Städtchen. Ihr Reisebegleiter notiert die Ereignisse und Dinge, die ihre Aufmerksamkeit fesseln. Perspektiven und Ansichten, die ihr bemerkenswert erscheinen, werden vermessen und markiert. Einige Wochen später sind hier die Blickschleusen installiert, die Anwohnern und Passanten ermöglichen, sich den flüchtigen Eindrücken einer Ausflüglerin anzunähern.


Prolog
Während der Planungsphase seiner öffentlichen Intervention in Kirchheim unter Teck brachte Christian Hasucha eine Modelltouristin, Frau K. aus Köln mit. Frau K. erhielt die Aufgabe, einen Tag lang durch das historische Stadtzentrum von Kirchheim zu schlendern und Aussichtspunkte zu bestimmen, die ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse erregen. Diese Orte und Situationen wurden von Christian Hasucha notiert und vermessen, und dabei wurde jeweils auch eine bestimmte Blickrichtung festgelegt.

In den folgenden Wochen wurde das künstlerische Konzept den zuständigen Behörden im Rathaus vorgestellt, es wurden Ortsbegehungen unternommen und Genehmigungen für sieben Blickschleusen eingeholt, die einen Sommer lang im Stadtzentrum von Kirchheim installiert sein sollten. Mit einem grauen und rostfarbenen Schutzanstrich versehen, unterscheiden sich die Blickschleusen erst auf den zweiten Blick vom Schilderwald des öffentlichen Raumes. Im Unterschied zu diesen gebieten und verbieten sie nicht, sondern existieren unter anderen als stumme Herausforderung. Die Blickschleusen, die wie kleine Verkehrsinseln aussehen und mit einem Sucher und einem ausgestanzten, rotbraunen Schild ausgerüstet sind, geben jedem Passanten die Möglichkeit, den persönlichen Blick einer Fremden nachzuvollziehen und dabei auch eigene, neue Wahrnehmungserfahrungen zu machen, die sich von den bisherigen, gewohnten unterscheiden.

Die Postkarte
Als Hinweis- und Informationsträger des Projekts wurde eine handelsübliche Postkarte verschickt, deren Motiv der Bildsprache des Tourismus entnommen ist: ein idealtypischer Ausschnitt der historischen Kleinstadt mit geraniengeschmückten Fachwerkbauten unter tiefblauem Himmel. Nur ein Kreis, der mittig der Postkarte eingeprägt wurde und Teile des "schönen Motivs" fokussiert, irritiert und gibt Rätsel auf.

Das Projekt
Die Postkarte spielt mit Vorstellungen, die auf Gewohntem und Bekanntem beruhen. Sie weckt daher Erwartungen, die vom realisierten Projekt bewußt enttäuscht und unterlaufen werden, denn die Orte und Situationen, die Frau K. entdeckte und aussuchte, entsprechen nicht den touristischen Attraktionen, die normalerweise in den Broschüren der Tourismusbüros angepriesen werden. Es ist vielmehr "der Blick daneben", der an spektakulären Dingen vorbeischaut, da diese sowieso die Aufmerksamkeit des konsumierenden Blicks auf sich ziehen. "Gemeinplätze", so Heinz von Foerster, einer der Mitbegründer der evolutionären Erkenntnistheorie, "haben den fatalen Nachteil, daß sie durch Abstumpfen unserer Sinne die Wahrheit verschleiern." (Foerster, v., Zukunft der Wahrnehmung -Wahrnehmung der Zukunft, 1972) In diesem Sinne sind Hasuchas ästhetische Eingriffe durchaus auch als Herausforderung zu lesen, die konventionellen Wahrnehmungsmuster zu überwinden.

Die Blickschleusen sind auf beiläufige, unspektakuläre Situationen und Gegenstände gerichtet, die normalerweise kaum augenfällig und eher unter dem Aspekt ihrer Benutzbarkeit und ihrer Funktion betrachtet werden. Darunter befinden sich Architekturelemente wie zum Beispiel eine spätgotische Fiale an der Ostfassade der Martinskirche, ein ovales Fenster auf der Ostseite des Mönchshauses, ein Holzgatter zwischen zwei Gebäuden und ein Entlüftungsschacht mit Lamellen. Ebenfalls werden Objekte der öffentlichen Möblierung und Dekoration aus ihrer Umgebung herausgelöst wie zum Beispiel die bankähnliche Steineinfassung einer Rabatte, eine Holzbank mit Streukasten und eine Holzkonstruktion zur Einfriedung städtischen Grüns.

Bei richtiger Justierung des Suchers erscheinen diese Objekte zeichenhaft und aus ihrer Umgebung wie herausgeschnitten. Sie schieben sich optisch vor den ausgestanzten, rotbraunen Grund, so daß ein nur für den Augenblick bestimmtes "Bild" mit klarem Form-Grund-Verhältnis entsteht. Dieses Prinzip erinnert an die Transformation von Objekten am Bildschirm des Computers: ein Objekt wird markiert, dann isoliert und in einen anderen Zusammenhang übertragen.

Für kurze Zeit entziehen die Blickschleusen dem öffentlichen Raum, der immer auch ein verwalteter ist, einige Quadratzentimeter, die durch den Benutzer zum singulären Bild-Objekt montiert -und danach wieder ihrem ursprünglichen Umfeld zurückerstattet werden. Da die Blickschleusen einfach zu bedienen sind, kann jeder zum Benutzer werden und damit seine individuellen ästhetischen Erfahrungen machen. Der Künstler hingegen übernimmt bei dieser Intervention die Rolle des Requisiteurs, der die Versuchsanordnung bzw. die Wahrnehmungssituation konstruiert und zur Verfügung stellt.

Aufgrund der nur auf den Augenblick begrenzten ästhetischen Erfahrung sowie der begrenzten Dauer der öffentlichen Intervention erhält diese den Charakter eines kurzen Ereignisses, das aber hinterher noch weiterexistiert in Form des photographischen Dokuments, des kommunikativen Austauschs oder als Legende eines Ortes. Christian Hasucha entgeht mit diesem Verfahren der Gefahr der Musealisierung der Interventionsobjekte im öffentlichen Raum.


Werden die Interventionsrequisiten in den musealen Kontext übertragen, veranschaulichen sie dagegen die Umkehrung des von Marcel Duchamp angewandten "readymade" -Prinzips: sie wurden als "Geräte für ästhetische Handlungsformen" konzipiert, in Alltagssituationen implantiert und bewahren dadurch im musealen Kontext den authentischen Charakter von Alltagsgegenständen.

Susanne Jakob, Stuttgart



Im Originalheft neben den Text gesetzte Zitate:

Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegenstellt.

Aus: Guy-Ernest Debord, Theorie des Umherschweifens


Der Tag als Zeitspanne zwischen zwei Schlafperioden macht die durchschnittliche Dauer des Umherschweifens aus.

Aus: Guy-Ernest Debord, Theorie des Umherschweifens


Die Situation ist gleichzeitig eine Verhaltenseinheit in der Zeit. Sie besteht aus Gesten, die in der Ausstattung eines Momentes enthalten sind.

Aus: Guy-Ernest Debord, Vorbereitende Probleme bei der Konstruktion von Situationen


In ihr (Situation) soll die Rolle des - wenn nicht passiven, so doch zumindest als bloßer Statist anwesenden - Publikums immer kleiner werden, während der Anteil derer zunehmen wird, die zwar nicht Schauspieler sondern in einem neuen Sinn des Wortes "Lebe-Männer' genannt werden können.

Aus: Guy-Ernest Debord, Rapport über die Konstruktion von Situationen


...die neue Schönheit kann nur die einer Situation sein.

Aus: Guy-Ernest Debord, Les Lèvres nues, 1955

Vgl. Projektdokumentation Nr. 27 S.K. besucht Kirchheim