CLAUDIA HEINRICH / MATTHIAS SCHAMP

(Auszüge aus
Dokumentation des HELIX HOCHBAUs,
Kunsthaus Essen, 1995)

DER HELIX-HOCHBAU
Ereignisse zum erweiterten Kunstbegriff


Im Oktober 1995 fiel im Kunsthaus Essen der Startschuß für das Projekt 'DER HELIX-HOCHBAU - Ereignisse zum erweiterten Kunstbegriff'. Etwa ein Jahr lang fanden an wechselnden Stellen des Gebäudes (Heizungskeller, Musikprobenraum, Toilette, Filmraum, Küche, Bürgervereinsraum, Kopierraum usw.) 13 Veranstaltungen (Performances, Interaktionen, Vorträge usw.) statt, und zwar so, daß die sukzessive Abfolge sämtlicher Aufführungsorte nach und nach eine raumgreifende imaginäre Spirale bildete, die sich Stück für Stück Stockwerk für Stockwerk und in einer beständig höher kreisenden Bewegung vom Keller aus durch das Kunst-haus nach oben schraubte. Dabei erfolgte die Auswahl der Geschehnisse nicht willkürlich: Zum einen war jedes Event auf die spezifischen Funktionen und sozialen Prozesse seiner unmittelbaren Umgebung bezogen (z.B. Küche: Thema 'Nahrung, Essen', Toilette: 'Hygiene', Kopierraum: 'Information, Reproduktion'). Und zum anderen handelte es sich nicht um herkömmliche Kunstwerke mit ihren festgelegten Produktions-, Vertriebs- und Rezeptionsmustern, sondern ausschließlich um grenzgängerische Arbeiten - gewissermaßen Kunst im weitesten Sinne. So entwickelte sich durch die Thematisierung der in ihm ablaufenden Prozesse eine Art instrumentelle Befragung des Hauses. Und insgesamt schritt als im Bewußtsein zu erzeugende imaginäre Verbindungslinie zwischen den (durchaus auch für sich stehenden) Veranstaltungen Stück für Stück der Hochbau der Helix fort - als eine große in den Raum gestellte Denkfigur.
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FRAGESTELLUNGEN

Natürlich bricht die Entwicklung, die in den 60er und 70er Jahren zu den beschriebenen, zahlreichen Neuerungen in der Kunstauffassung geführt hat, Anfang der 80er nicht radikal ab, sondern andere Programme, die sich u. a. durch eine Rückkehr zur Malerei auszeichnen, gewinnen - keineswegs unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Tendenzen - ihre marktbeherrschende und damit die allgemeine Diskussion bestimmende Position zurück. Parallel wird aber - gewissermaßen als rezessiver Strang zum dominanten Kunstgeschehen - in kleineren Zirkeln eine Fortführung der auf Entgrenzung zielenden Strategien vorangetrieben. Network und Crossover sind dafür Beispiele. Insofern bedeutet der HELIX HOCHBAU auch keinen Neuanfang.

Die Traditionslinie war nie gerissen, aus der das Projekt sein Selbstverständnis herleitet. Aber wie man die Zielsetzungen der 60er und 70er Jahre - trotz des Herausstellens gewisser gemeinsamer Elemente - wohl kaum auf eine einhellige lnhaltlichkeit reduzieren kann (wie zahlreiche Auseinandersetzungen belegen), stellt sich diese Traditionslinie auch heute keineswegs als verbindliche Norm dar. Eher schon handelt es sich bei ihr um ein tendenziell in ähnliche Richtungen weisendes Geflecht heterogener Positionen, welche an einigen Stellen Berührungspunkte aufweisen, an anderen sich hingegen sogar konträr verhalten können.

Ergo kann man die Künstler, für deren Arbeit der HELIX-HOCHBAU eine Plattform schuf, auch nicht auf ein allen gemeinsames Programm festlegen. Deren Überschneidungen zeigen sich eher in einer Negation: allesamt sind die ausgewählten Künstler nicht mit der Erzeugung traditioneller Kunstwerke befaßt, d. h. die klassischen Gestaltungs-, Produktions-, Vertriebs- und Rezeptionsmuster werden von ihren Arbeiten unterlaufen. Und es war gerade ein wesentliches Spannungselement des H ELIX-HOCHBAU, die Vielfältigkeit der Positionen, mit denen dies geschieht, einmal herauszustellen.

Eine der wesentlichen Unterschiede, die sich dabei herauskristallisierten, war z.B., ob der Begriff 'Kunst' in irgendeiner Weise essentiell oder eher kontextuell aufgefaßt wurde. Künstlerische Positionen, die eine Art Wesenskern der Kunst voraussetzen, aus dem sie schöpfen (wobei die gewählten Formen dann allerdings nicht den tradierten Mustern entsprechen), standen solche entgegen, die in der Kunst eher einen Distributionsweg sehen, der die Möglichkeit bereitstellt, bestimmte Inhalte zu transportieren, die nicht a priori als künstlerische, denn vielmehr als einem allgemeinen Erkenntnisinteresse dienende aufgefaßt werden. Arbeiten, die als schöpferische verstanden werden wollten, d. h. von einem jeweiligen Subjekt als kreativer Akt der Entäußerung betrieben wurden und die damit sich selbst Zweck waren, trafen auf solche, die eher Mittel sein sollten, zur freien Verfügung stehende Instrumente, mit denen ihr jeweiliger Benutzer Erkenntnisse erlangen kann, wobei der Person ihres Urhebers eine eher marginale Rolle zukommt.

Auch die Nähe bzw. Entfernung, mittels der man sich auf jene u. a. von Duchamp bis zu Fluxus, Situationismus, Konzeptkunst etc. reichende Traditionslinie bezog, die die herkömmlichen Kunstbegrifflichkeiten in Bewegung brachte, wurde äußerst unterschiedlich beurteilt. Ganz dezidiert auf Fluxus rekurrierende Arbeiten standen solche gegenüber, die sich dazu in bewußter Abgrenzung empfanden und sich eher gegenwärtigen Begrifflichkeiten wie 'Crossover' zugeneigt sahen. Auch die Frage wie die Elemente 'Werk', 'Vertrieb', 'Vermittlung, 'Rezeption' usw. sowie die Beziehungen, in denen sie zueinander treten, aufzufassen seien, führte zu alternativen Bewertungen - ebenso die Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Alltag zueinander stehen. Denn bewegen sich die einen bewußt im Kontext 'Kunst', um ihn als Freiraum für spezifische Erfahrungen nutzbar zu machen (die dann in einer eher sekundären Weise ins Leben hineinwirken sollen), überschreiten andere absichtlich die kontextuellen Grenzen, um z.B. unterschiedliche Rezeptionsweisen als gleichberechtigte Erfahrungen zu etablieren. Bei aller Heterogenität traten dabei allerdings zwischen verschiedenen Positionen auch immer wieder Gemeinsamkeiten zutage, die natürlich nicht auf sämtliche Elemente, aber auf Teilaspekte bezogen werden können.

WAHRNEHMUNGSINSTRUMENTE

Eine solche Gemeinsamkeit bildete beispielsweise die Tatsache, daß gleich mehrere der Künstler ihren Hervorbringungen eher die Funktion von Wahrnehmungskatalysatoren beimessen, als daß sie sie als Endziele der Anschauung verstanden wissen wollen. Als Beispiel für ein solch instrumentelles Verständnis von Kunst sei hier auf Christian Hasuchas Arbeit hingewiesen, der ein derartiges Wahrnehmungsinstrument in Form einer Rampe in den Bürgervereinsraum hineinbaute, anhand dem nicht nur die darin ablaufenden Prozesse der Vereinsarbeit, sondern rückwirkend und gewissermaßen selbstreferentiell auch die Prozesse der Kunstrezeption thematisiert wurden, denn der betrachtete Betrachter wurde - indem er sich als in den Augen seiner Gegenüber gespiegelt empfand - zum sich selbstbeobachtenden System. Dieses Interesse, mittels seiner Arbeiten auf deren Umgebung gerichtete Erkenntnisprozesse zu initiieren, gehört zu Hasuchas bevorzugter Zielsetzung. Er schafft eine Art Bewußtseinsparameter, anhand derer sich die darum herum ablaufenden Prozesse bemessen und damit intensiver erfahren lassen.
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Zu Christian Hasuchas Arbeiten:

Christian Hasuchas bevorzugtes Arbeitsgebiet ist der öffentliche Raum. In ihm platziert er keine autonomen, selbstreferentiellen Skulpturen, sondern seine Öffentlichen Interventionen' führen Parameter oder Irritationen ein, die als Wahrnehmungshilfen dienen, mit denen sich die alltäglichen Prozesse plötzlich mit gesteigerter Intensität erfassen lassen. So installiert oder exponiert er Objekte, die sich mit oft beiläufigen, unspektakulären Mitteln klammheimlich in ein Alltags-Umfeld einnisten, für kurze Zeit Irritation und Neugier schüren und, bevor man sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hat, wieder entfernt werden. Beispielsweise kanalisierte er den Betrachterblick durch Metallschilder mit seltsamen Ausstanzungen auf im Alltag vernachlässigte architektonische Details wie Schornsteine oder Laternen ('Urbane Ikonen', Trondheim, 1991/92). Oder er ließ die exakte Höhe über Normalnull der Tischplatte eines runden Imbißbudentisches in Langenhagen ausmessen (51,301 m über NN) und dieses Maß an sämtlichen Straßenmasten der Stadt mit schwarzweißem Trassierungsband als Referenzhöhe markieren ('Ebene Tisch, 1993). Dem aus seiner Umgebung herausgelösten Objekt oder Motiv kommt dabei in erster Linie ein exemplarischer Stellenwert zu - stellvertretend für alles andere zu Entdeckende: den scheinbaren Nebensächlichkeiten des täglichen Lebens, in denen doch soviel von seiner Bedeutung aufgehoben ist. In einem noch viel stärkeren Maße sind es allerdings die im öffentlichen Raum ablaufenden Prozesse, die durch diese Interventionen erfahrbar gemacht werden. Denn den Passanten, die sich im Zuge ihrer täglichen Verrichtungen durch den Raum bewegen, wird plötzlich ein Parameter ins Bewußtsein gebracht, anhand dem sie diese Strecken (und damit auch deren Ziel und Zweck) bemessen können. Privatheit und Öffentlichkeit sind dabei zwei häufig wiederkehrende Motive: Individualität und Gesellschaft. Hasucha vermittelt durch seine Arbeiten eine ganz ungeahnte Erfahrung der eigenen Körperlichkeit und damit Stellung zur Außenwelt. Sei es, daß der Passant sich mit seiner Imagination durch die über das gesamte Stadtgebiet hin ausgedehnte Tischplatte bewegt, sei es, daß er in den Abendstunden allein einen 5 m hohen Stahl-Hochstand erklimmt und von da aus 'Uber die Stadt' (1991) blicken kann, sei es, daß er von einer in ca. 20 cm Höhe an einem Straßenmast angebrachten Miniaturplattform einen Ausschnitt seiner täglichen Umgebung betrachtet. Dabei ist es der Raum selber, der sich in dem Maße verändert, in dem man ein anderes Verhältnis zu ihm einnimmt.

In zahlreichen Fällen setzt Hasucha auf die tätige Mitarbeit eines mehr oder weniger eingeweihten Personenkreises. Diese Erfahrung machte in besonderer Weise auch jeder Besucher der Helix-Veranstaltung, der von der Rampe auf die Versammlung herabblickte, und es machten sie ebenfalls die Bürgervereinsmitglieder (mit denen der Vorgang vorher abgesprochen worden war). Beide Prozesse - der Besuch des Kunst-Ereignisses wie die Versammlung des Bürgervereins - wurden kurzfristig zu einer Überlappung gebracht. Ohne den Versuch, sie sozialromantisch zu vermischen, bewahrten beide ihren Anspruch auf Separation. Doch in der Überlappung spiegelte sich auch das Eine im Anderen und wurde auf diese Weise intensiver erlebbar - bei gegenseitigem Respekt.


EREIGNISSTATION: Bürgervereinsraum
Der Rellinghauser Bürgerverein 'Gottfried-Wilhelm-Kolonie ist Mieter eines Kunsthaus-Raumes im ersten Stock. Dieser Raum stellt - seiner Funktion entsprechend - innerhalb des Hauses eine Besonderheit dar; sein Interieur ist eine bunte Mischung von seitens der Mitglieder gespendetem Mobiliar. Sitzecken, ein Billardtisch, Schränke und Regale mit Bierhumpen, Pokalen, Fotosammlungen, Plastikblumengestecken, also ein Sammelsurium an Erinnerungs-, Gebrauchs- und Schmuckstücken, geben dem Raum ein zwar recht heterogenes, doch gemütliches Erscheinungsbild und verdeutlichen seine doppelte Nutzung als Tagungs- und Diskussionsort rund um die Stadtteilarbeit und zugleich als Ort für geselliges Beisammensein und ungezwungene Festivitäten. Einmal im Monat treffen sich die Mitglieder des Bürgervereins zu einer Sitzung um einen großen zentralen Tisch, um anstehende Fragen - am Veranstaltungstag z.B. den Beitrag des Vereins zum bevorstehenden Stadtteilfest 1000 Jahre Rellinghausen' - zu erörtern.

11. EREIGNIS: 'Die Sitzung'
Zeitgleich zur Eröffnung der Sitzung im Bürgervereinsraum (ein Glockenläuten gab das entsprechende Signal) begann im Flur davor eine kurze, in Hasuchas Arbeitsweise der 'Intervention' einführende Eröffnungsrede. Künstler und Veranstalter begrüßten die eintreffenden Besucher, Getränke wurden kredenzt. Absichtlich war eine solche vernissagenartige Form gewählt worden. Irritationen gab es jedoch von Beginn an: nicht nur, daß der Empfang nicht im Veranstaltungs-, also Bürgervereinsraum selbst, sondern im davorgelagerten Flur stattfand, nicht nur, daß sogar eine Barriere aus einem Raumteilerregal und einem langen, schwarzen, direkt in der Türöffnung angebrachten Vorhang nachdrücklich Eintritt und Einblick verwehrten - vielmehr bat man alle Gäste, im Anschluß an die Rede mit ihrer Unterschrift auf einer eigens vorbereiteten Liste zu bestätigen, daß der Tagungsraum von ihnen auf eigene Gefahr betreten würde. Was die Eintretenden darin erwartete, wurde indes nur soweit verraten: eine Sitzung des Bürgervereins. Spannung und Neugierde führten in kürzester Zeit zu einer 35 Namen umfassenden Unterschriftenliste, womit zugleich auch die Reihenfolge des Betretens festgelegt war. Die außen neben dem Vorhang postierte Türsteherin ließ darauf mit der Bitte, sich möglichst geräuschlos zu verhalten, die Unterzeichner jeweils einzeln hinter die Sichtschutzschleuse treten. Folgendes Bild bot sich: Unmittelbar hinter dem Vorhang führte eine Treppe hinauf auf eine 6 m lange, 1 m breite Holzrampe, die von der Türöffnung aus in ca. 1,50 m Höhe wie ein Sprungbrett in den Raum hineinragte. Sie endete genau über der Mitte des Sitzungstischs, um den herum die Vereinsmitglieder ihr Thema diskutierten. Am Ende der Rampe lud ein festmontierter Bürostuhl zum Platznehmen ein. Aus dieser exponierten Stellung heraus konnte der Gast dem Sitzungsverlauf als stummer Beobachter beiwohnen, während er selbst den Blicken der Vereinsmitglieder ausgesetzt war. Ein Lichtzeichen zeigte ihm nach circa 3 Minuten an, daß seine Verweildauer beendet war. Daraufhin verließ er den Raum, um dem nächsten Besucher Platz zu machen.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 25 Die Sitzung