CLAUDIA HEINRICH

(Beitrag in arte factum, Antwerpen Juni 1994)

CHRISTIAN HASUCHA

Mit dem Kopf durch den Tisch


In einer deutschen Kleinstadt bei Hannover mitten in einer gewöhnlichen Pommesbude steht ein kleiner Tisch; der ist der Mittelpunkt der Welt... Der ganzen Welt? Nein, aber doch der Mittelpunkt Langenhagens. Solcherart nobilitiert hat ihn Christian Hasucha, in Köln ansässiger Künstler. Im Rahmen des Projektes "vor ort - Kunst in städtischen Situationen", das 1992 vom Kulturreferat Langenhagen initiiert wurde, wählte er das Möbel als Zentrum seines Beitrags "Ebene Tisch". Seit September 1993 kann sich das Tischchen nun wichtig fühlen; Hasucha ersetzte seine verschlissene, kreisrunde Resopalplatte durch eine blankpolierte aus Granit, veranlaßte die vermessungstechnische Ermittlung seiner exakten Höhe über Normalnull und umklebte die Kante mit schwarzweiß-gekästeltem Trassierband. Mit gleichartigen Banderolen ließ er alle 5.000 Straßenmasten Langenhagens in Tischplatten-Höhe markieren, d. h. bei 52,301 m über Normal Null. Je nach Standort des Pfahls, je nach Bodenwölbung, befindet sich die Markierung teils im Kniebereich, teils versinkt sie fast im Boden, teils übersteigt sie Kopfhöhe. Eingeweihten - und eingeweiht waren per Informationsschreiben alle Haushalte Langenhagens - erteilt Christian Hasuchas Eingriff eine undidaktische Lektion in Sachen Relativität: er beweist, daß Wissen und Sehen nicht unbedingt deckungsgleich sind und entlarvt das scheinbar völlig flache Land als hügelig-bewegt. Die Tischhöhe diktiert sich als neudefiniertes Ur-Maß dem gesamten Stadtgebiet auf, sie wird zur Referenzhöhe. Und der Imbiß-Stehtisch zum Sockel einer mehrere Quadratkilometer-großen konzeptuellen Skulptur - einer imaginären Fläche, die Langenhagen und seine Passanten horizontal durchschneidet.

Inmitten der amüsant-vermessenen Setzung und der Erheiterung, welche jener Diskrepanz entwächst, die zwischen der Profanität eines Objektes in unpathetischer Umgebung und den hehren Gefilden der Kunst und ihrer Rezeption klafft, schlummert der ernste Kern der Arbeit; Hasuchas Interesse kreist um die Dichotomie Individuum/Öffentlichkeit, um subjektive Wahrnehmung von (öffentlichen) Räumen und der eignen existentiellen Bedingungen. So entspringt auch die Diktatur des Tischchens keiner Willkürentscheidung - schließlich vereint es in sich Qualitäten, die es für diese erhabene Position prädestinieren: es symbolisiert aufgrund des geringen Tischplatten-Durchmessers und seiner Funktion, die intime Verrichtung der Nahrungsaufnahme hilfreich zu stützen, eine Enklave der Privatheit inmitten der Alltags-Hektik einer halb-öffentlichen Räumlichkeit. Fast läßt sich eine metaphorische Verknüpfung konstruieren zwischen der zentralen Bedeutsamkeit des - festinstallierten - Tisches und den potentiellen Fähigkeiten des Individuums, von festem Standpunkt aus, mit sicherer innerer Haltung, der Außenwelt ein subjektives Maß aufzulegen und ganz beiläufig eine zentrale Rolle zu spielen. "Ebene Tisch" vermittelt dem wissenden Fußgänger eine ungeahnte Erfahrung der eigenen Körperlichkeit im Raumbezug: da gedankenschnell eine Verbindung zwischen Referenzhöhenmarkierung und Ausgangspunkt Tisch hergestellt und so das durchschrittene Gebiet als gedachte Expansion der Tischplatte erlebt werden kann, zwingt die Arbeit, sich selbst, die eigne Position, permanent in der Relation zur Tischhöhe zu definieren. "Ebene Tisch" vermittelt die Wahrnehmung der eignen Existenz.

Seit Beginn der 80er Jahre nimmt Christian Hasucha temporäre Eingriffe in urbanes Umfeld vor -oft in der Peripherie, fernab von Kunstmarktstrukturen und ihren Örtlichkeiten. Dauerhafte skulpturale Veränderungen verschleißen die Wahrnehmung, seine Arbeiten entfalten sich eher beiläufig, ihre Komponenten haben Verweischarakter und sind oft nur Werkzeuge oder Vermittler des Gemeinten. Sie nisten sich meist unangekündigt, unkommentiert und klammheimlich in den Alltag ein, schüren Irritation und Neugier und verschwinden nach einiger Zeit ganz unpathetisch. Hasuchas "Offentliche Interventionen (Ereignisse, Stadt-Implantate, attributive Plastik)" kreisen um den Menschen im Raum; es gilt, den faktischen städtischen Außenraum und seine Dingwelt der Vereinnahmung der medialen Welt wieder zu entreißen und eine Rückgewinnung der auf reine Funktionalität ausgerichteten Außenwelt als überschaubaren, bewußt erlebten, faktischen Lebensraum zu betreiben. Methodisch vollzog er eine Abwendung von Bildhauerei in tradiertem Sinne hin zur Inszenierung von Handlungen, die Assoziierte ausführen, zur Konstruktion von Objekten, die auf andere, dem Umraum zugehörige verweisen, und von Hilfsmitteln und Werkzeugen, die interessierte Rezipienten benutzen können.

Seine Urban-Art, die er seit 1981 in fortlaufender Reihung umsetzt, berührt zwei Hauptstränge: Kommunikations- und Isolationsarbeiten. Modellhafte Situationen, die Hasucha durch choreographische Eingriffe aus Alltagsszenarien exponiert, verführen zu zwischenmenschlichen Kontakten. Da geht beispielsweise "HERR INDIVIDUAL" (1987) vier Wochen lang mehrere Stunden täglich auf einem 2,40 in hohen Betonsockel in gleichmäßig-zügigem Schritt-Tempo auf elektromotor-betriebenem Laufband - scheinbar auf der Stelle. Die Szene simuliert Normalität, der Mann ist "normal" gekleidet, trägt einen gewöhnlichen Gegenstand in seiner Hand und unterscheidet sich nicht wesentlich von allen unterhalb seines erhöhten Lauffeldes Vorbeieilenden. Das Modell des Passanten, nur eine Etage höher gelegt -schalkhafte Persiflage des Alltags und zugleich existentielle Metapher der Sinnlosigkeit. Der provokanten Präsentation ge-wohnter Tätigkeit kann sich kein zufälliger Betrachter entziehen; vom Künstler alleingelassen, wird er - je nach Temperament - dem Wunsch nach Kommunikation über das Irritierende nachgehen.

Dies löste auch die Aktion "JETZT" (1989/90) heftigst aus. Laut künstlerischer Anweisung sitzt ein Akteur mehrere Wochen lang allabendlich auf einem gut sichtbaren Hausdach mitten in der Stadt. Seinen Impulsen folgend, beleuchtet er per Knopfdruck einen neben seinem Stuhl befindlichen Kasten, wobei in riesigen ausgestanzten Lettern das Wort "JETZT" illuminiert wird. Ein erhabener Standort, ein losgelöstes Wort, ein exponierter Augen-blick - rätselhaft für den flanierenden Passanten, da keine Bezüge, noch nicht einmal die Zugehörigkeit zum Kunstkontext, erkennbar werden. Aus Ratlosigkeit entstehen phantasievolle Erklärungsmodelle, so werden Selbstmordabsichten gemutmaßt oder Referenzen auf etwas, das es zu suchen gilt. Und man diskutiert lebhaft; unmerklich gewinnt der Rezipient damit den öffentlichen Raum als Ort des verbalen Austauschs zurück.

Eine andere Form von künstlerischer Arbeit führt weit weg vom kommunikationsstiftenden Umraum hin zu exponierten Orten der Konzentration und Kontemplation. Auf seiner einjährigen EXPEDITION LT 28 E (1991/92), die er im Rahmen seiner öffentlichen Interventionen mit vielseitig ausgerüstetem Werkstattwagen durch Randgebiete Europas unternahm, exponiert er z. B. im norwegischen Trondheim marginale Details aus architektonischen Zusammenhängen, die im Alltag vernachlässigt am Rande der Wahrnehmung dahinvegetieren. Er befestigt in einiger Entfernung von der auserwählten "URBANEN IKONE" ein einfaches Metallschild, aus dem er die genaue Umrißform des zu isolierenden Objektes stanzt und kanalisiert damit den Betrachterblick: das Rätsel der Platten mit den sonderbaren Aussparungen ist zu lösen, wenn der neugierige Fußgänger sich durch den Raum bewegt, bis er den einen exakten Standort findet, der das fokussierte Detail mit der Leerstelle im Schild zur Deckung bringt. Schornstein oder Laterne erscheinen auf der anderen Seite einer Blick-Schleuse. Die Sinne für die kleinen Dinge am Rande schärfen sich.

Je mehr sich Hasuchas Arbeiten auf die weitläufigen, diffusen Räume des alltäglichen Lebens beziehen, um so deutlicher mar-kiert er feste Orte als Ausgangspunkte der Rezeption - vom kleinen oder großen, runden Stand-, Sitz- oder Referenz-Punkt aus können die Wahrnehmungssinne expandieren. Nach einem 5 m hohen Stahl-Hochstand für urbane Gefilde, dessen Plateau eine einzelne Person allein in den Abendstunden betreten und unter Begleitung einer Klanginstallation "ÜBER DIE STADT" (1991) blicken kann (wobei sich Gefühle der Einsamkeit mit Erhabenheit mischen), initiiert Hasucha eine aktuelle Podest-arbeit, die weniger pathetisch und bodennäher daherkommt:

"INTERVENTION P" (Köln 1993, Heilbronn und Graz 1994). Interessenten bot der Künstler an, speziell angefertigte runde Miniaturplattformen in ca. 20 cm Höhe an einem Straßenmast in ihrer täglichen Umgebung anzubringen. Der Auftraggeber (oder ein Unbekannter, der zufällig auf das Objekt stößt) stellt sich täglich eine selbstgewählte Zeit darauf, wird selbst zur Skulptur auf Sockel und steht ruhig über seiner alltäglichen Situation - im faktischen und übertragenen Sinne. Und geht weiter. Was bleibt, auch nach Entfernen des Podestes, ist ein individueller nach-haltiger Eindruck vom exponierten Ort und den Momenten des genossenen ordnenden Überblicks.

Alle konzeptuellen Arbeiten Hasuchas hinterlassen solch dauerhaft spürbare Wirkung, denn sie sind weder entbehrliche Stadtmöbel noch schwerverdauliche Kost. Vielmehr schleichen sie sich beiläufig und subtil geradewegs ins alltägliche Leben und unmittelbar in die individuelle Wahrnehmung, wo sie sich in Denkbewegungen umsetzen. Und die können dann sogar (wie im Falle Langenhagens) mitten durch ein Imbißbudentischchen führen. Und weit darüber hinaus.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 18 Ebene Tisch