Täuschungen, Störungen, Schnittstellen und Ermöglicher

Christian Hasucha

Täuschungen

I
Da beginnt ein Bauarbeiter mit Signalweste und Transportkarre voll Material irgendwo in Berlin eine Baustelle einzurichten, indem er Warnbaken aufstellt. Sorgfältig wählt er die Stelle aus, wo er mit einem Erdbohrer eine enge zylindrische Grube gräbt und einen Verkehrs-Sperrpfosten hineinsetzt. Er nimmt einen Maurertrog, füllt Wasser aus einem mitgebrachten Kanister hinein und öffnet einen Sack Fertigbeton. Mit dem Spaten vermengt er alles zu einem feuchten Gemisch und schüttet es in das Erdloch um den Pfosten herum bis kurz unter die Grubenöffnung. Mit der Wasserwaage wird der Pfosten ausgerichtet und die Grube mit etwas Aushubsand aufgefüllt. Dann kehrt der Bauarbeiter die restlichen Arbeitsspuren zusammen, lädt alles wieder auf seine Karre und verlässt dieStelle. Zurück bleibt ein scheinbar funktionsgerecht eingesetzter Verkehrspoller. Der Poller wird kaum einem Stadtbewohner auffallen. Er kann dennoch wegen seiner Ununterscheidbarkeit gegenüber allen amtlich gesetzten Pollern Verunsicherung hervorrufen. Voraussetzung für diese Verunsicherung ist die Kenntnis, dass ein Künstler diese Aktion mit 16 Verkehrs-Sperrpfosten im Frühjahr 2009 an verschiedenen Orten in Berlin durchgeführt hat. Der Künstler streut die Information über seine Aktion sukzessive. Eine Hinweisliste der Implantations-Orte wird es nicht geben. Welches ist nun ein behördlich, welches ein künstlerisch gesetztes Objekt? Die Beurteilung, welche Pfähle in der Stadt ausschließlich aufgrund räumlich-ästhetischer Kriterien gesetzt wurden, wird den Empfängern der Information überlassen. Generiert sich dennoch Künstlerisches an manchen Orten? Wer ist dann der Autor?

II
Da beginnt der Künstler in einem Raum in Moabit, der seit zwei Jahren als Ausstellungsraum benutzt wird, Unterkonstruktionen für einen Komplettumbau zu montieren. Anwohner und Passanten, denen die Bauarbeiten nicht verborgen bleiben, fragen nach, was für ein Laden hier entstehen soll. Ein paar Tage später wird sogar die große Schaufensterscheibe herausgenommen, so dass hier der Moabiter Außenraum in das Haus eindringen kann. Es wird eine Schalung für eine Betontreppe vor die Fassade gesetzt. Die Innenraumwände sind mittlerweile mit Trockenputzplatten vollständig verkleidet. Nach Aushärtung der Betontreppe wird nebenan eine Vernissage veranstaltet, man sitzt auf den Stufen und trinkt Bier. Über die Treppe ist der öffentliche Raumfortsatz Tag und Nacht zugänglich, und wird rege genutzt, wie die Spuren an den Wänden, Erzählungen von Nachbarn und der Einsatz der Feuerwehr, die eine hilflose Person dort vorfindet, beweisen.

Störungen
Für wen führe ich solche Interventionen* durch? Es gab eine Zeit, da beschäftigte mich diese Frage sehr und ich reiste mit Werkzeug und umgebautem Lieferwagen ein Jahr lang durch Randgebiete Europas bis nach Kleinasien und hinterließ auf meiner Strecke an inspirierenden Orten meine interventionistischen Arbeiten zur zufälligen Entdeckung. Ich wollte wissen, ob es mir reichen würde, anonym und ohne direkte Resonanz zu arbeiten. Die Antwort war: es reichte mir nicht; andererseits wurde mir klar, dass ich immer mehr dazu übergegangen war, nicht mehr auf einen alleingültigen Zustand der Präsentation hin zu arbeiten, der dann womöglich konserviert werden sollte. Nach meiner Rückkehr stellte ich fest, dass bei vielen Kollegen und Kunstinteressierten die Dokumentation, die Skizzen und Erzählungen meiner Reise-Arbeiten ausreichte, um sie präsent werden zu lassen. In gewisser Weise wurden diese sogar als konsequenter eingeschätzt als das, was ich bisher innerhalb des Ausstellungsrituals eines Kunstvereins oder einer Galerie realisierte. Mir wurde klar, dass bei Interventionen in alltägliche Strukturen die punktuell hinzukommenden Vernissagenbesucher selbst die Störfaktoren sein können, sofern sie nicht konzeptionell zum „Bild“ gehören. Bei den Pollern habe ich bis auf „Beweisbegleitung“ auf Publikum verzichtet, bei der Moabiter Kunstraum-Entkernung fand im hinteren Gebäudeteil eine zweite Vernissage statt, so dass der Irritationsgrad für zufällig Vorbeikommende bezüglich meiner Intervention erhalten blieb. Sind nun „Eröffnungen“ für Interventionskunst kontrakonstruktiv? Durchaus, wenn sich vor den eigentlichen Adressaten (Anwohnern, Passanten etc.) das Kunstpublikum spreizt. Nicht, wenn der eigentliche Eingriff von diesem Ritual unbehelligt bleibt oder die Wahrnehmung der Intervention innerhalb des gewohnten Alltagsgefüges stattfindet, was zum Beispiel dann geschehen kann, wenn die Information dazu sukzessive distribuiert wird, so dass ein Pulk von Kunstbesuchern vermieden, ein „stilles“ Miterleben dennoch ermöglicht wird. Werde ich um Beiträge für eine eher traditionelle Ausstellung gebeten, bei denen ich zunehmend die künstlerische Dokumentation und die Relikte meiner Interventionen zeige, begrüsse ich regelmäßig Personen im Vernissagenpublikum, die sich als langjährige, bisher „stille“ Teilhabende meiner öffentlichen Arbeiten und Impulse outen.

Schnittstellen
Rückblickend kann ich sagen, dass viele meiner Interventionen, deren Wirkungsweisen und gestalterische Varianten ich in kompletter Eigenregie erprobte, mir Perspektiven und Möglichkeiten für neue öffentliche Projekte aufzeigten**. Es gab da zwar die Schwierigkeiten, von den Ordnungsbehörden akzeptiert zu werden. Oft vermied ich daher den amtlichen Kontakt. Bei kleineren Arbeiten schien mir ein aufwändiges Genehmigungsprozedere nicht notwendig, bei anderen war mir klar, dass ich eine Erlaubnis nie bekommen würde. Es stellte sich aber heraus, dass einstmals ungenehmigt durchgeführte Interventionen sich später durch die schlichte Tatsache legitimierten, dass sie bereits anderswo realisiert worden sind und allein deshalb genehmigungsfähig wurden („Herr Individual geht“, „P“, „Die Insel“ etc.). Das erste Ausprobieren neuer Projekte – mein eigentliches „Kunst-Studium“, welches ich immer noch praktiziere – erfordert ständige Offenheit gegenüber dem Projektverlauf und der Wirkung der Eingriffe. Es führt dazu, dass ich immer wieder mit dem Perspektivenwechsel spiele und die Sicht der Anwohner einnehme.

Für beauftragte Eingriffe ergab sich dann die Notwendigkeit der Kooperation mit institutionellen oder behördlichen Veranstaltern. Deren organisatorische oder finanzielle Hilfestellungen waren oft mit gravierenden Einschränkungen verbunden. Konnte ich bei den in Eigenregie realisierten Arbeiten die Ausführungs-Choreografie konzeptgerecht entwickeln, so lief kaum eine Intervention mit städtischen Kooperationspartnern ohne konzeptferne Verhandlungen über Sicherheit, Wirksamkeit (im Sinne der Publicity-Interessen des Veranstalters), Dauerhaftigkeit oder Nachhaltigkeit ab (extrem beschränkende oder erwartungsbeladene Beispiele finden sich auch heute noch in vielen Ausschreibungsunterlagen für Kunst-am-Bau-Wettbewerbe). Kunst wird dabei immer wieder instrumentalisiert, aber auch von kompromissbereiten Kollegen und Kolleginnen bereitwillig den Erwartungen und Themenvorgaben angepasst. Der künstlerische Horizont der daraufhin realisierten Arbeiten reicht dann über die eingrenzenden Vorstellungen der Auslober oft nicht hinaus. Ich versuche mir einzureden, dass es besser sei, mit eigenwilligen Entwürfen abgelehnt zu werden, weil deren Entstehung regelmäßig von einer Vielzahl künstlerischer Einfälle begleitet wird, die anderswo mit weniger Beschränkung adäquat umgesetzt werden können.

Ermöglicher
Ermöglicher sind Personen, die per Amt oder aufgrund ihrer Privatinitiative in der Lage sind, neue künstlerische Projekte anzuregen, zu begleiten und zu unterstützen. Gerade wenn es nicht ihre eigenen Mittel sind, über die sie für eine Realisierung verfügen, so sind diese zwar notwendig aber nicht hinreichend, was von vielen Projektmanagern verkannt wird. Viele glauben, dass die Bereitstellung von knapp gehaltenen Finanzmitteln ausreichen würde, um ein größeres Projekt neu zu entwickeln. Es ist aber seitens der Organisatoren ein spürbares Qualitäts-Interesse (was längst nicht immer der Fall ist, wenn prominente Namen im Spiel sind) an der gemeinsam zu realisierenden Idee nötig. Ohne die begleitende Aufmerksamkeit und Diskussion, ohne Wohlwollen für das lange Zeit Undeutliche, ohne Vertrauen für das Entstehende und ohne die Bereitschaft, ein möglichst günstiges Bedingungsfeld zu schaffen, wird der lediglich aufs Finanzielle und auf die Publicity achtende Ermöglicher nur Wiedergänger oder Abklatschkunst ernten können. Nicht jeder, der hier Ko-Künstler sein könnte, begreift sich als solcher, am wenigsten die Ermöglicher in Ausübung administrativer Funktion. Die sich als Über- oder Gesamtkünstler begreifenden Großausstellungsmacher komponieren zwar oft faszinierende Parcours, greifen dennoch meist auf bereits Geschaffenes zurück*** und sind eher interessengeführte Zusammenträger als Neuentwicklungsförderer. Ermöglicher sind sie nur insofern, als sie andere Unterstützer auf ihre Kandidaten aufmerksam machen können. Der entscheidende Moment ist folgerichtig der, bei dem ich zu spüren glaube, dass ich bei meinem Gegenüber eine eigene Begeisterung für meinen Entwurf ausgelöst habe. Vorausgegangen sind Anrufe, Mails oder Briefe, in denen eine Einladung formuliert wurde, die aufgrund der Kenntnis meiner vorangegangenen Arbeiten erfolgte. Oft sind in den Einladungen thematische, formale oder wirtschaftliche Ziele verborgen, die es zu erkennen gilt. In diesen Fällen versuche ich regelmäßig, den vorgegebenen Rahmen zu sprengen und eine eigene Form der Annäherung an die Situation zu finden. Mit denjenigen, die dies zulassen oder sogar fördern, gelingt dann ab und an eine Realisierung, die über das aktuelle Arbeitsfeld hinausweisen kann und mir und anderen eine Weiterentwicklungs-Perspektive aufzeigt. Glücklicherweise traf und treffe ich immer wieder auf solche Kuratorinnen und Kuratoren, und es kann etwas entstehen wie das Projekt in Berlin-Moabit, bei dem sich in ein Mietshaus für kurze Zeit 28,33 m3 Außenraum einstülpen konnten.

* Interventionen sind im Gegensatz zu Installationen nicht auf ein konvergent erzeugtes und dann fixiertes Bild hin ausgerichtet. Sämtliche Komponenten ihrer Genese, ihrer Dauer, ihres Verschwindens sowie ihrer Kommunikation sind Bestandteil und werden je nach Möglichkeit vom Künstler oder von Teilhabenden bearbeitet. Es kann sich im Laufe des Nachbearbeitungsprozesses aber ergeben, dass einige Komponenten – ohne dass der Künstler dies beabsichtigt hätte – verwertet werden. Die Implementierung in den Kunstbetrieb bedeutet entweder eine nachgelagerte Änderung des Projektgefüges oder sie erfolgt, falls konzeptuell vertretbar, als Relikt und Dokumentationspräsentation. Hierbei wird Sekundärmaterial gezeigt, was dann in Fachkreisen oft als missverstandenes künstlerisches Primärmaterial zirkuliert.
** Wie entwickelt sich eine Intervention? Abgesehen von professionellen Beteiligten, mit denen ich mich intensiv austausche, gibt es jemanden, den ich den Fiktional-Teilhabenden (FT) nenne. Der FT ist meine Prüfinstanz bei der Entwicklung der Intervention. Je nach Variation versuche ich mir seine Haltung dazu vorzustellen. Als FT stelle ich mir eine Person vor, die an den Seltsamkeiten der jeweiligen Umgebung ebenfalls interessiert ist und die dann zum Beispiel zufällig an die Information mit den 16 Pollern gerät und sie in ihrem mentalen Depot für Merkwürdigkeiten ablegt. Ich lasse sie dann in meiner Vorstellung auf einen seltsam positionierten Verkehrspfahl oder auf einen kurzen Tunnel in einem Haus treffen, wo sie sich an seiner Seltsamkeit wärmen oder einfach die eigene Irritation genießen kann.
*** Parallel zur begrenzbaren Präsentations- und Spekulationskunst entwickelte sich seit den frühen Achtzigern eine Kunst mit sich völlig davon unterscheidenden Parametern: nicht das isoliert zeig- und verwertbare, sich selbst genügende Einzelwerk, sondern das Arbeiten mit den zur Zeit herrschenden Bedingungen, den Strukturen und Wahrnehmungsvarianten innerhalb einer sich ändernden, jeweiligen Umgebung steht im Fokus. Kunstfreunde, deren Blicke nach wie vor nur auf die Handelszentralen und Präsentations-Knotenpunkte gerichtet sind, könnten die Scheuklappen ablegen.