Olaf Grüneis

"Geschichte und ihr Ernstfall"
Zu Christian Hasuchas Projekt Nr. 47 in Broschüre:
"Probewohnen in Slubfurt, Detail: Loggia."
Inter-edition, Berlin 2005

(Samstag, den 16. Oktober 2004)


Ein großer Platz in einem Wohngebiet in Slubfurt/Polen: "Platz der Helden", auf einer Seite das "Denkmal gegen den Faschismus". Ein Baugerüst hebt eine Loggia etwa drei bis vier Meter über den Platz. Ist die Tür ins Schloss gefallen, trübt nichts mehr den Eindruck von Loggia, von Daheimsein, von Innerlichkeit. Die Innenfarbe durften sich die Teilnehmer aussuchen: was im Baumarkt so zu haben und up to date ist:
DIC 3, DIC 2038, DIC 2082 etc. Die private Umgebung kann man also noch frei wählen, die Geschichte jedoch, ihre Gesellschaft kann man dagegen nicht frei wählen.
Dieser reine Eindruck von "Loggia" prägt die eine der bestimmenden Perspektiven, die Innenperspektive: Geschichte ist plötzlich >zum Greifen< nah, Teil der individuellen Geschichte und Subjektivität, Thema eines Dialogs auf Augenhöhe, Teil des Ensembles privater Einrichtung, gerade weil sie der öffentliche Raum liegen lässt, sie nicht in einen Sinnkontext einbindet - auf einem leeren Platz, auf dem früher nur Paraden stattfanden - und ist so der beliebigen Vereinnahmung von allen Seiten preisgegeben. Geschichte wird also genauso materialisiert wie sie cum grano salis >auf der Straße liegt<: Man hält es aus, wenn einem zwei Rotarmisten auf die Teller gucken. Der Umgang mit Geschichte bekommt so eine neue Bedeutung. "Man erinnert sich, um zu vergessen", sagte Freud. Die emotionale Wirklichkeit dessen, wofür dieses Denkmal steht, unsagbares Leid, beispielloser Massenmord, ist heute längst im "Alltagsgeschäft" der Gesellschaft untergegangen. Geschichte wird verwaltet, ist Teil des Prozesses von Vergesellschaftung geworden statt ihm gegenüber kritisch aufgestellt zu sein. Sie >stört< nicht mehr, zum Stein des Anstoßes wird sie nicht. Sie ist zum kommerziellen Betätigungsfeld von Geschichts-Profis geworden. Vorbürgerliche Autoren wie Ovid oder Rabelais aber wussten, dass Geschichte eine menschliche Vitalfunktion und niemandem gedient ist, sie nur dem Kritischen Räsonnement zum Fraß vorzuwerfen. Eine Gesellschaft lebt von der Geschichte der Menschen und nicht von der als Medienereignis oder als Denkmal materialisierten Geschichte. So mahnt diese Intervention einen Diskurs an, an dem die Lebenden beteiligt werden müssen, der dadurch die Geschichte aus ihrer Babylonischen Gefangenschaft befreien könnte, von ihrem vagabundierenden Dasein als >Straßenköter<. So soll Geschichte ein wirkliches Gemeingut sein und nicht nur das Gut derjenigen, die sie verwalten. Geschichtskultur kann in Gedenkkultur nicht aufgehen. Bloß verwaltet, im Stadium der Diaspora wird Historie aufhören zu existieren, weil unlebendig, sozusagen in Einmachgläser gepackt, die Zukunft aufhören wird. Dies läuft letztlich auf das hinaus, was Kluge den "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" nennt.
Eigentümlich wird es in dem Moment, in dem Passanten, denen das Denkmal schon längst keine Blicke mehr wert ist, die Insassen der Loggia sehen und die Bewohner wie Eindringlinge betrachten. Blicke der Passanten geben der allenthalben zur Normalität gewordenen Innerlichkeit plötzlich eine Bedeutung, die sie in einer Wohnsiedlung niemals finden würde. Die Innerlichkeit bekommt plötzlich eine Bedeutung, die sie bisher nicht hatte, sie wird aufgenommen in einen Diskurs, tritt insofern nicht mehr als abgeschottet und privat auf, wo sie sofort dem Verdikt der Rückständigkeit verfiele, sondern erscheint und funktioniert als "dialogische". Dialogisch im Sinne des Dialogs mit der Geschichte wie auch im Sinne des Dialogs der Gesellschaftsteilnehmer. Die Aufmerksamkeit wird auf eine Eigenschaft gelenkt, die der Geschichte inhärent ist, eine Eigenschaft, die alle gutgemeinte Geschichtsbeschäftigung nicht los wird: dass alles Geschichtliche äußerlich ist. So öffnet dieser Dialog den Blick auf eine geschichtliche Perspektive, die im öffentlichen Diskurs der ihn bestimmenden gesellschaftlichen Institutionen schon längst untergegangen ist. So wird Innerlichkeit, die individualisierende Innenperspektive der Menschen zum Ereignis und erhält im buchstäblichen Sinn den Rang, der ihr gebührt. Es muss Formen geben, die dem tatsächlichen Gebrauchswert von Öffentlichkeit zuarbeiten und sich nicht pseudo-legitimierend als leere Wertnorm auf ihn abstützen.
Es ist - wie es Michael Theunissen formulierte - wohl wahr, dass "zuerst die Zeit kommt und dann das, was wir mit ihr machen" doch darf die Option, dass wir es sind, die etwas mit ihr machen, nicht zu kurz kommen. Das ist erschütternd und verheißungsvoll zugleich, Auftrag und Chance. Es muss Menschen geben, die der Geschichte entgegengehen. Das sind die Helden: Menschen aus Fleisch und Blut.

© by Olaf Grüneis, 18. Oktober 2004

Kommentar zu Hasuchas Projekt: "Probewohnen In Slubfurt, Detail: Loggia." Siehe auch:
www.slubfurt.net

Vgl. Projektdokumentation Nr. 47 Probewohnen in Slubfurt