Grüneis, Olaf

Gespräch mit Christian Hasucha

Eine Hörbild-Exkursion von Walter Siegfried
und Christian Hasucha


Jeweils sieben Mal wird die Tribüne in der Gropiusstadt neu positioniert. Die Exkursionsteilnehmer hören Lieder von Franz Schubert und Johannes Brahms - vorgetragen von Walter Siegfried mit Klavierbegleitung aus seinem Lautsprecher-Rucksack - zusammen mit den zufälligen Alltagsgeräuschen.

'Die Dinge singen hör ich so gern"
(Rainer Maria Rilke)


Teilnehmer Olaf Grüneis im Gespräch mit Christian Hasucha
Es werden hier einige Antworten von Olaf Grüneis, Regisseur und Schriftsteller aus Berlin, gekürzt wiedergegeben


C.H.: ?

O.G.: Die Passanten gehörten ja dazu und waren mindestens genauso wichtig wie die Zuhörer auf der Tribüne und da es im Parkhaus kaum Passanten gab und voher auf dem Platz viele, wurde man schnell sensibilisiert, was dieses Arrangement meinen könnte.

C.H.: ?

O.G.: Wenn man zuerst denkt, wird man nicht dahinterkommen, aber wenn man etwas fühlt, dann kann man ja über seine Gefühle nachdenken. Zum Beispiel fühlte ich mich in Gesellschaft anders als wenn ich dort alleine gewesen wäre.

C.H.: ?

O.G.: Ja, es war eine eigentümliche Umkehrung der üblichen konzertanten Situation, das heisst, die Zuschauer waren ja eigentlich Akteure auf einer Bühne. Das war für mich der Schlüssel, dass nicht der Sänger auf der Bühne stand, sondern das Publikum. Die Akteure auf der Tribüne waren ja die Verbindung zwischen dem Sänger und den Passanten. Ohne die vorgegebenen Blickachsen, die sich aus den Positionen der Tribüne ergab, hätte eine solche erkennbare Gemeinschaft aus disparaten Unbekannten ja gar nicht entstehen können.

C.H.: ?

O.G.: Bei euch waren die zufälligen Passanten Hörer und Zuschauer anderer Zuhörer gleichzeitig.

C.H.: ?

O.G.: Nö, man fühlte sich ja auch in dieser kleinen Gemeinschaft aufgehoben, allerdings würde dies ohne den Gesang nicht funktionieren. Gerade durch diese elegisch-romantischen Schumann-Lieder wurden unterschiedliche Erfahrungshinter-gründe geteilt. Das war meines Erachtens auch sehr wichtig, deswegen war auch diese erste Kontrastierung zwischen Platz und Parkhaus sehr wichtig, weil man gemerkt hat, dass die Gruppe immer weiter zusammengeschweißt wurde, dass die Unterschiede zwischen mir und den anderen sich immer mehr nivellierten und dieses emotionale Mitempfinden zur Musik sich immer stärker aufbaute.

C.H.: ?

O.G.: Es waren dennoch einige von aussen, die sich mit drauf gestellt hatten. Es gab ja durch die Tribüne diese Art Appell, sich dort hinauf zu stellen. In einem Konzerthaus ginge das nicht.

C.H.: ?

O.G.: Ob es denen bewußt war, weiß ich nicht, aber sie waren in ihren sozialen Rollen sicher herausgefordert. Am Tag, als ich da war, gab es ja auch das kleine Mädchen, das fragte, was wir da machten, einige standen hinter der Gardine und schauten zu.

C.H.: ?

O.G.: Ja, das ist jetzt sehr persönlich: wenn die Situation, in der etwas stattfand, stärker ausgenutzt worden wäre.

C.H.: ?

O.G.: Ja, ich kann ein Lied singen oder ich kann mich einer bestimmten Formensprache bedienen. Es kommt natürlich auch darauf an, wo jemand etwas macht, ob jemand im Wald ist oder in der U-Bahn.

C.H.: ?

O.G.: Wo ein Regisseur eben auf die Szene kommt und dort etwas findet, was er sich nicht zuhause ausgedacht hat. Es ist ja sicher zu neunundneunzig Prozent der Fälle so, dass das, was er vorfindet, schlauer als das, was er am Schreibtisch niedergeschrieben hat.

C.H.: ?

O.G.: Weil es eben diese Erfahrungseinheiten auf der Tribüne in Korrespondenz miteinander gebracht hat. Ich möchte damit nicht die Leute selbst als Erfahrungseinheiten bezeichnen, sondern das, was sie mit sich herumtragen ... Es sind ja so etwas wie imaginäre Koffer, die man mit sich herumträgt. Bei stark traumatisierten Leuten ist das ja auch etwas ganz anderes als bei solchen, die sich ständig in privater Ruhestellung befinden.

C.H.: ?

O.G.: Ja, der Appell, der Imperativ, hier in einer Gemeinschaft mit anderen zu sein, taucht ja woanders gar nicht so stark auf.

C.H.: ?

O.G.: Auch der Bananenverkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt macht natürlich Theater, sonst würde er nichts verkaufen. Man kann das gar nicht trennen: die Iebenspraktischen und die ästhetischen Horizonte.

C.H.: ?

O.G.: Es reicht einfach ein soziales Sensorium, das reicht vollkommen aus. Und die einzige Kompetenz, die man haben muss, ist eine gewisse Empfindungsfähigkeit. Das ist jetzt noch nichts ästhetisch Überformtes, man muss nicht auf einer Schauspielschule gewesen sein, urm auf dem Podest stehen zu können. Dennoch entsteht ein performativer Prozess, ohne dass er geschult werden müsste.

C.H.: ?

O.G.: Das ist dann eben auch ein eigentümlich schlitzohriges Verunsichern derer, die da an eurer Veranstaltung teilnehmen. In dem Moment, wo ich durch die Musik emotionalisiert bin, werde ich ja auf mich selbst zurückgeworfen und alle meine Schutzmechanismen, meine soziale Maske droht zu zerbrechen.

C.H.: ?

O.G.: Auf der anderen Seite gibt es diese soziale Kontrolle. Du kennst die anderen ja nicht. In diesem eigenwilligen Spannungsfeld bewegt sich eure Intervention.


Christian Hasucha im Gespräch mit Olaf Grüneis, Dezember 2003


"Seit 1995 arbeite ich am Projekt "Situative Gesänge". Es handelt sich dabei um eine Fortschreibung der in den "Stadttanz"-Aktivitöten entwickelten Grundideen: Die Aufmerksamkeit des Publikums soll für eine bestimmte Zeitspanne auf einen ausgewählten Ausschnitt der Alltagswelt gelenkt werden. Je unspektakulärer die mehr oder weniger kurzfristige Zuwendung zu den Dingen provoziert werden kann, um so gelungener erscheint mir die Arbeit.
Es gilt, die Aufmerksamkeit zu erregen und sie zu binden, sie auf ein Feld zu lenken, ohne sie zu zwingen."
(Walter Siegfried)


Ich selbst gehöre eigentlich sehr gerne zu den Leuten, denen zufällig etwas Derartiges begegnet.
(Christian Hasucha)


Klaviereinspielungen, die Walter Siegfried mittels Lautsprecher-Rucksack begleiteten, von Thomas Emmerling, art & piano, München.

Eine akustische Sequenz der Gesänge / Geräusche ist zu hören unter www.floraberlin.de als einer der jüngsten "soundbags" des gleichnamigen Internet-Projektes von Ralf Langebartels.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 45 Ansichtslieder Gegenwart