Reinhard Braun

(Beitrag in THE THING Vienna, 1994)

Translokation. Eine Ausstellung als Methode
Eine Ausstellung zu den Interventionen im Grazer Stadtgebiet von Luc Deleu, Formalhaut, Christian Hasucha, Yuji Takeoka

Der Begriff der "Translokation" fungiert so wenig als Ausstellungstitel, wie er sich allein auf diese Ausstellung bezieht. Er formuliert und beschreibt vielmehr ein Projekt, das seit 1991 be- und vorangetrieben wird und neben einem Forschungsauftrag und einer daraus resultierenden Publikation, die den theoretischen Rahmen skizziert, auch eine Ausstellung umfasst. "Translokation" bezeichnet dabei eine grundlegend veränderte Betrachtungsweise zum Thema der Konstitution und Verfassung des Ortes. Diese veränderte Perspektive zielt aber weniger auf Definitionen und Fixierungen von Orten, Räumen, raumbilden-den Objekten und Ensembles (Architektur), sondern vor allem auf die möglichen vielfältigen Praktiken und Strategien, die auf deren Umformung und (vorübergehende) Aufhebung zielen. Die Vorsilbe "trans" beschreibt diese Umwandlung der Verfassung und Einfassung des Ortes allerdings gerade nicht als eine der Bewegung, des Transports, als eine (mediale) Durchquerung der Orte und Räume, sondern als eine Transformation der Lokation an Ort und Stelle. Diese Metamorphose des Ortes, jene Eingriffe, die sich dem Ort bzw. einem Begriff des Ortes aussetzen und dabei und dadurch seinen Zustand ändern, erscheinen nicht so sehr als klassische Interventionen, die einen "Ort im Ort" einfügen oder einen Fremdkörper (Kunst) in ihn einschleusen, sondern als Eingriffe, die eine spezifische Perspektive auf den Ort erst einführen, von der aus sich Modifizierungen denken lassen, die zu Interferenzen innerhalb des Ortes führen -Interferenzen, in denen sich die präzise Konturierung des Ortes (Besetzung, Bedeutung, Gebrauch) aufzulösen beginnt. Die Arbeiten installieren einen Standpunkt zum Ort, von dem aus sich ein anderer Ort an Ort und Stelle konstituiert, ein andere Ort, der sozusagen aus der Tektonik des einen Ortes freigelegt wird.

Die in der Ausstellung präsentierten bzw. dokumentierten Arbeiten stellen solche Eingriffe in die Konfiguration eines Ortes dar, entwerfen solche, oder sind Modelle diverser Strategien, die eine Wandlung des Konzepts vom Ort nicht nur indizieren, sondern exemplarisch auch vollziehen. Dabei geht es nicht (nur) um eine buchstäbliche Präsenz im Raum oder des Raumes, sondern um konzeptuelle Bedingungen und Konsequenzen, um eine, wenn man so will, "Ästhetik der Übertragung". Einige Arbeiten (etwa jene von Mischa Kuball, Martha Laugs oder Osvaldo Romberg) "unterstellen" formale und metaphorische, d. h. signifikante Transformationen von Topografie bereits als Vorraussetzungen ihrer Projekte-Topografie als eben jene Konfiguration, die die Verfassung eines Ortes 'abbildet'. Andere (wie jene von Christian Hasucha, Hannes Forster oder Norbert Radermacher) initiieren erst solche Transformationen am Ort vor Ort. Mit dem Begriff der "Translokation" ist also ein Modell beschrieben, solche Konfigurationen und Topografien zu analysieren, sie strategischen Eingriffen zu unterziehen, d. h. eine kulturtechnische Methode entwickelt, die auf eine Redefinition des Ortes zielt. Die eingeladenen Künstlerinnen, Künstler und Gruppen verfolgen in ihren Arbeiten und Projekten explizit solche Strategien der Translokation, der Verrückung, Verschiebung, Verdichtung und der Übertragung; der konkrete Ort, der je spezifische räumliche Kontext wird dabei von einem Standort zu einem Umschlagplatz, einer Halte- und Schaltstelle von und zwischen flüchtigen, flagranten und permanenten, "ortsansässigen" Besetzungen und Bedeutungen. Das Buch wie die Ausstellung stellen die Frage, inwiefern und mit welchen Mitteln die Kunst derartige Operationen am Ort vollzieht, und versuchen, eine unvollständige, aber in Teilen prägnant formulierte und präsentierte Archäologie der Translokation zu formulieren. "Kunst zwischen Architektur" eröffnet dabei ein Spannungsfeld von diversen und differenten, künstlerischen wie theoretischen Ausgangsmöglichkeiten über Operationen am Ort, wobei der Begriff des Ortes selbst als durchaus je anderer zur Voraussetzung genommen wird. Es existieren also von vornherein keine mit sich selbst identen Orte, vielmehr so viele Projektionen auf ihn, wie es Diskurse um ihn gibt. Insofern etabliert sich auch die Methode der Translokation nur im Feld eines bereits bestehenden Spektrums von (künstlerischen wie theoretischen) Blicken auf den Ort.

Die Ausstellung versammelt also nur bedingt Objekte, die sich selbst als "Werke" präsentieren, oder vielmehr solche, die sich nur bedingt als "Werk" präsentieren. Sie umfasst vielmehr solche Objekte, die in unterschiedlichem Verhältnis zum System und dem Raum der Ausstellung selbst stehen und von hier aus ihre je anderen Räume entwerfen, sich auf diese beziehen, sie evozieren und in die Gegenwart der Ausstellung projizieren. Die Dynamiken der unterschiedlichen Orte ereignen sich daher auch durch/auf/in verschiedenen Ebenen, Bezügen und Repräsentationen. Skulptur, Fotografie oder Installation erscheinen hier als Medium in sprichwörtlichem Sinn, bündeln sie doch wesentlich abwesende und andere Räume als jenen "vor Ort". Sie sind auf den künstlichen Raum der Ausstellung zwar angelegt (wie jene von Georges Rousse oder Susanne Mahlmeister), implantieren diesem jedoch Syntagma und Strukturen jener anderen Räume, die sie thematisieren und die ihr eigentlicher Anlass wie Gegenstand sind (der Treppenaufgang, das Pariser Pantheon). Sie konstruieren also Brüche und Diskontinuitäten der räumlichen Syntagma der Ausstellung, indem sie jene Orte, Räume und Körper einführen, Orte, Räume und Körper, die in diesem Ausstellungsraum grundsätzlich nicht präsent sein können, diesem aber einschreibbar sind. Diese Form der Übertragung und Projektion, einer Ein (- und Ver-) schreibung, kennzeichnet einen Moment der Methode, die hier mit "Translokation" bezeichnet wird.

Dabei muss aber nochmals eine Unterscheidung zum Begriff einer "Kunst im öffentlichen Raum" getroffen werden. Die Arbeiten, die die Ausstellung umfasst, sind keine öffentlich gemachten Skulpturen, folgen keinem Transfer von künstlerischen Aspekten in Kontexte der Öffentlichkeit. Insofern findet auch nicht primär ein Transfer von Bedeutungen statt. Es geht nicht darum, der Kunst einen Ort im öffentlichen Raum zu erobern oder Zellen aus diesem als Kunst-Zellen herauszu-schneiden, sondern darum, eine umfängliche Transformation zu intendieren, von der (künstlerischen) Marke her den Ort quasi als "Peripherie" dieses Eingriffs zu deuten und ihn radikal zu dislozieren, d. h. dass etwas anderes an diesem Ort Platz greift, das sich von diesem anderen aber nicht als Differenz (Kunst) unterscheidet. Kunst erscheint dabei selbst als öffentliches Material, als Material der Öffentlichkeit, das in diesem Eingriff und in der Anamorphose des Ortes verschwindet. Der Begriff der Kunst selbst ist dabei vielleicht nur ein sekundärer; es geht vor allem darum, die Arbeiten nicht als eine Verschiebung der inhaltlichen Konfiguration eines Ortes zu begreifen, sondern als formale Strategie, d. h. als Anordnung von strategischen Interventionen, als Konfiguration von formalen Aspekten, die den Ort qualitativ in und gegen sich selbst verschiebt. Im Zentrum steht nicht die Modifizierung von Bedeutungen durch andere Bedeutungen, sondern Anordnungen, die einen Spalt inden Sinn und die Bedeutung des Ortes treiben.

Exemplarisch hierfür erscheint die Arbeit "Jetzt" von CHRISTIAN HASUCHA. Auf einer Fassadenmauer sitzt für die Dauer von drei Wochen allabendlich ein Mann auf einem dort verankerten Stuhl. Dieser Mann betätigt in beliebigen Intervallen einen Schalter: das Wort "Jetzt" leuchtet als Neonschrift auf. Dieses lakonische Statement hat keinen Bezug zum Ort, zu dem Geschehen, das sich vor Ort ereignet. Es ist nichts weiter als die selbstbezügliche Kommentierung eines Geschehens: jetzt einen Kontakt zu betätigen. Dieses willkürliche Zeitmass blendet sich buchstäblich über die Zeitordnung des Ortes, ohne dieser zu entsprechen oder dieser zu folgen. Ironisch bezieht sich diese Leuchtschrift natürlich auch auf die permanenten Bestrahlungen der Orte durch Werbemittel aller Art und deren Unsinn, oder besser: Nicht-Sinn. Wesentlich ist allerdings die Gleichgültigkeit gegenüber der (zeitlichen) Struktur des Ortes, gegenüber den Abläufen, die ihn überziehen und definieren. "Jetzt" führt ein indifferentes Moment gegenüber dem Ort ein, ist keine kunstorientierte inhaltliche oder ästhetische Analyse, sondern die schlichte Spiegelung der Willkür der Bedeutungen kultureller Strukturen und Muster, indem es auf das geschäftige Treiben entlang von diesen Notwendigkeiten und/oder Begehren die lakonische Tatsache projiziert, dass jetzt "Jetzt" ist. Doch durch diese Tatsache ist der Ort jetzt, was er in Abwesenheit von "Jetzt" nicht mehr ist. Es ist nicht mehr der Ort, der existierende Kontext, der die Intervention definiert, es ist nicht mehr die Vorgängigkeit des Ortes, die der Begriff "Kunst im öffentlichen Raum" nach wie vor indiziert, sondern es ist jetzt der Ort, der erst durch eine Markierung als "Jetzt", d. h. als Ort definiert wird. Jenseits dieser (zufälligen) Belichtung des Ortes ist er nicht. Insofern ist diese Arbeit von Christian Hasucha exemplarisch für jenen hier oft erwähnten Mechanismus der Überblendung, eines Eingriffs, der nicht notwendigerweise etwas verändert, sondern den Ort grundsätzlich anders "beleuchtet": Translokation erscheint somit als jene andere Perspektive auf den Ort, die ihn anders sieht und innerhalb der Arbeit darstellt. Der Ort ist von einer Intervention her zu lesen, die sich als Übertragung darstellt: während eines Eingriffs, der sich auch als künstlerischer darstellen kann, wobei jedoch die strategische Komponente wesentlicher ist, während solch eines Eingriffs ist der Ort ein anderer, wird seine Konfiguration durch eine andere überblendet und substituiert. "Jetzt" produziert hier buchstäblich einen "anderen Raum": Translokation.


Reinhard Braun, Kunsthistoriker, arbeitet für Camera Austria und als freier Autor; lebt in Graz.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 11 JETZT