Kai Bauer

Fremd in Neuhausen

Ein Projekt von Christian Hasucha

Kunstverein Neuhausen, Aktionsphase, 1 6. -30.3.2003
Dokumentationsausstellung, 13.4. -18.5.2003

Im Gemeinderat von Neuhausen auf den Fildern sitzt die Expertin für Stadtmarketing direkt neben ihm. Während sie darauf wartet, ihr Konzept den anwesenden Ratsmitgliedern vorzustellen, beginnt sie mit ihrem Nachbarn einen freundlichen Smalltalk: ob es nicht ziemlich warm sei "unter dem Ding". Nach einer kurzen Pause zuckt sie zusammen und liest sofort in ihren Unterlagen weiter, so, als habe sie versehentlich einen Garderobeständer angesprochen. Denn er bleibt stumm und wendet sich ihr nur mit einer Drehung des ganzen Oberkörpers zu, weil er sie seitlich nicht durch die winzigen Löcher, mit denen seine weiße Kopfkapsel übersät ist, sehen kann. Diese Bewegung wirkt allerdings grotesk, ja sogar arrogant und bedrohlich. Vor allem als er sie dann fixiert, um das Gesicht zur eben gehörten Stimme zu erkennen, erinnert er an einen Schmetterlingsforscher, der ein aufgespießtes Exemplar seiner Sammlung begutachtet.

Das Projekt "Fremd in Neuhausen" gehört jedoch nicht zum Stadtmarketing, sondern wurde vom Kunstverein Neuhausen in der ersten Märzhälfte durchgeführt. "Fremd" ist eine Kunstfigur, entwickelt vom Berliner Interventionskünstler Christian Hasucha. Über die Personen, die "Fremd" verkörpern, weiß man nur, dass sie männlichen Geschlechts und von ähnlicher Statur sind. "Er konnte weder sprechen noch sich mit Handzeichen verständlich machen. Seine plastischen Umhüllungen behinderten die direkte Kommunikation mit ihm", schreibt Christian Hasucha in seinem Konzept.

Die Gemeinderatssitzung ist nur einer von über fünfundzwanzig Terminen, zu denen "Fremd" in Neuhausen eingeladen wurde. Er begleitete Damen beim Einkauf und beim Spaziergang. Er war eingeladen von Privatleuten nach Hause, zur Generalversammlung der Bürgergarde und zum TSV-Frauenturnen. Er erhielt eine Anlageberatung vom Leiter der Volksbank Fildern und musste eine Beinahe-Festnahme durch den Polizeiposten Neuhausen erleben. Immer schweigend, im sachlichen grauen Anzug, den Kopf in der eng angepassten Kapsel, auch die Hände in weißen Hartschalen. Die Vielfalt dessen, was "Fremd" an alltäglichem sozialen Leben in Neuhausen gezeigt wurde, ist beeindruckend. Im Vorfeld vermittelte der Kunstverein Neuhausen die Teilnahme an einer Ballettvorführung des Kulturrings, einer Führung zur zeitgenössischen Architektur und zweier Betriebsbesichtigungen. Bürgermeister Ingo Hacker ließ es sich nicht nehmen, persönlich mit dem schweigenden Gast eine Ortsbegehung vorzunehmen.

"Fremd" wurde von zwei Kindergärten, dem Bürgerzentrum, von einzelnen Abteilungen des Rathauses und vom Harmonikaspielring eingeladen. Der zweiwöchige Terminplan war dicht gespickt mit Einladungen und Treffpunkten im dreizehntausend Einwohner zählenden Städtchen "auf den Fildern", ein Hochplateau südlich von Stuttgart. Der Aufenthalt, der mit der Ankunft auf dem benachbarten Flughafen begann, sowie die Begegnungen "Fremds" mit Neuhausener Bürgern wurden fotografisch dokumentiert. Eine Auswahl aus den über 2000 Fotos von "Fremds" Teilhabe am Alltagsleben in Neuhausen wurden als Postkartenserie gedruckt und kann seit dem 11. April im Rathaus und in der Ausstellung des Kunstvereins erworben werden. Die Ausstellung mit Fotos, Objekten, Aktionsrequisiten dauert bis 18. Mai und soll in einem Projektkatalog dokumentiert werden. Die Kinderzeichnungen, Presseberichte, Polizeimitteilungen, zwei animierte Fotosequenzen und ein Videointerview zeigen ein buntes, vielseitiges und durchaus gastfreundliches Bild, das Fremd von seinem zweiwöchigen Aufenthalt in Neuhausen mitgenommen hat. Ein Großteil dessen, was er gesehen und erfahren hat, wird als Spiegelbild oder facettenreiches Porträt an die Neuhausener zurückgegeben. Die Präsentation geht von einer Vitrine aus, in der die Aktionsrequisiten gezeigt werden: zwei Kopf- und zwei Paar Handschalen mit mehreren Sets der dazugehörigen Kleidungstücke. Sie entwickelt sich über verschiedene Gruppierungen von Fotos, teils auf Leinwände belichtet, teils auf verschiedene Papierformate. Die Ausstellung zieht sich über das Treppenhaus in verschiedene Geschosse und Räume des Rathauses. In Amtstuben und Vorzimmern wurden teilweise Wandbilder abgenommen und durch Fotografien, die "Fremd" an eben diesem Ort zeigen, ersetzt. Dies führt zu visuellen Tautologien, bei denen die verschiedenen ästhetischen Sprachen subversiv einander angenähert und vermischt werden. Das Betrachten von Aufnahmen an den Originalschauplätzen bewirkt Irritation und Ambivalenz: "Fremd" wirkt einerseits merkwürdig vertraut und fügt sich mit bescheidener Selbstverständlichkeit in die Alltagsszenen ein. Gleichzeitig ist seine Erscheinung derartig reduziert und fremdartig, dass sie wie virtuell hineinmontiert wirkt. Zudem scheint sie von ihrer Umgebung jeweils eine neue semantische Aufladung zu erhalten. Diese komplexen Wechselwirkungen der real auftretenden Figur mit ihrem Umfeld unterscheidet "Fremd" auch von de Chiricos surrealen Gestalten oder Oskar Schlemmers Spielfiguren, die immer in eine ästhetisch gestaltete und damit fiktive und modellhafte Umgebung hineinkomponiert wurden. Besonders Fotosequenzen, die Fremd beim Besuch einer Familie in ihrer Wohnung zeigen, machen deutlich, dass Verhaltensweisen wie beispielsweise Dauer der Zuwendung, Kopfdrehen, Gerichtetsein des Körpers und andere Gesten, die zum Primärverhalten des Menschen zählen, ein Aktions-Reaktions-Schema und damit Kommunikation auslösen. Ausgerechnet diese Fotos wurden durch ein Computerprogramm zu virtuellen Filmsequenzen animiert und machen auf besonders sensible, heitere und manchmal rührende Weise nachvollziehbar, wie Verständigung nicht nur über verbalen Austausch, sondern auch durch die bestätigende Imitation von Gesten zustande kommt. "Fremd" als Kommunikationspartner ist nicht nur "anders", sondern er erzeugt durch seine Passivität eine beklemmende Atmosphäre. Im Unterschied zu Fremden, die aus einem anderen Sprach- und Kulturraum zu uns kommen, verhindert die weiße Kopfkapsel nicht nur den verbalen Austausch, sondern auch das Ablesen von Emotionen und Stimmungen, die sich normalerweise im Gesichtsfeld abzeichnen, und die zentraler Bestandteil der nicht-verbalen Kommunikation sind. Die Reduktion des sprechenden menschlichen Gesichtes auf eine weiße, perforierte Kunststofffläche, führt das Gegenüber an die Grenzen der Kommunikation. Oder sie beflügelt - wie Fremd es ebenfalls erfahren musste - die Projektion von Vorstellungen, Wünschen und Ängsten auf die Person mit der weißen Kopfkapsel. in den Situationen, in die er eingeladen ist, spielen alle das Spiel mit. Bei einem unerwarteten Zusammentreffen mit "Fremd" sind die Spielregeln nicht bekannt. Dort stört die Figur und erreicht sehr schnell die Grenzen der Toleranz und der öffentlichen Ordnung. Es tritt eine Situation ein, in der das Fremde nach den Worten der Psychoanalytikerin Julia Kristeva als das erscheint, "was Identität, System, Ordnung stört, das keine Grenzen, Positionen, Regeln respektiert".
Kennern von Christian Hasuchas Projekten und Dokumentationen, die sich meist durch eine spröde Alltagsästhetik auszeichneten, fällt die fast virtuose, oft von Zufälligem oder Spielerischem ausgehende Gestaltungsfreude des großen Klassikers der öffentlichen Interventionskunst auf, die er sich bei dieser Aktion in Neuhausen gestattet hat. Auch sein zeitweiliger persönlicher Einsatz als "Fremd" unterscheidet dieses Projekt von frühren Interventionen, selbst wenn Christian Hasucha betont, dass die Großstadtromantik und die damit verbundenen poetischen Bezüge in seiner Arbeit immer eine Rolle gespielt haben. Unvergesslich die fast rembrandtsche Szene auf einer großen Fotoleinwand, die "Fremd" nachts im Lichtstrahl des Fahrkartenautomaten zeigt: Als Protagonist eines Science Fiction Romans, der für seinen irdischen Aufenthalt dem Automaten Energie entzieht.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 43 FREMD in Neuhausen