Balthaus, Fritz

CONTEXT SWITCHES:
"KÜNSTLERISCHES HANDELN IM ÖFFENTLICHEN RAUM"

in: kunststadt stadtkunst Band 57, herausgegeben vom Kulturwerk des BBK Berlin 2010

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Christian Hasucha macht in seinen Arbeiten den Unterschied zwischen "hier" und "dort". Seine künstlerische Strategie der Translokation von Menschen und Orten ist programmatisch für die Vortragsreihe und bietet tiefsinnige Einblicke in die ästhetische Produktivität dieses Im- und Exportes von Mensch und Ding – von angestammten Plätzen in ungewohnte Umgebungen.

In "Günters Fenster" wird Günter Schulz, Frührentner, ehemaliger Brauereiarbeiter, Zeitungsbote und Pförtner, der seit 1994 allein in seiner 1 Zimmer-Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses in Berlin-Neukölln wohnt, nach Mülheim-Ruhr transloziert. Günters Lieblingsort ist die Fensterbank mit den ausgeblichenen Kissen. Darauf gestützt, beobachtet er das Geschehen auf dem Hinterhof. Christian Hasucha hat zurückgesehen und den Fensterplatz - unter Beibehaltung der Himmelsrichtung und des Stockwerks - am Rand der Mülheimer Innenstadt nachgebaut. Auch die Möbel von Günter Schulz werden nach Mülheim /Ruhr transportiert, Günter selbst reist für 2 Wochen dorthin und nimmt auch dort den Fensterplatz, diesmal mit Blick auf Mülheim ein. Günter steht am Fenster, auf seine verschlissenen Kissen gestützt und beobachtet die vorbeigehenden Passanten. Ab und zu steigt er vom Gerüst, um einzukaufen. Übernachtungsmöglichkeit sponsert ihm das nahegelegene Hotel.

Christian Hasuchas minimalistischer Freiflächentausch "Pulheimer Rochade" lebt nur noch von der Umgebung aus der etwas genommen und in die etwas hineingelegt wurde.

Eine zirka 25 qm grosse Fläche an der Pulheimer Realschule wird gegen eine gleichgrosse Fläche vor der 5 km entfernten Abtei im Ortsteil Brauweiler ausgetauscht. Strassenbeläge, Poller, Fahrradständer, Abfallkorb und ein Stück Jägerzaun wechseln den Standort. Die Verbundsteine mit einer weissen Markierungslinie werden für den Transport mit einem Eisenträger verklammert und am neuen Ort exakt ausgerichtet. Das Ausgetauschte selbst ist genau so wichtig wie der Kontext, Inneres und Äußeres sind abhängig voneinander und leben von den bizarren, fast zu übersehenden Strukturbrüchen in den Pflasterungen und Funktionen zwischen Hoch- und Tiefbau. Context-switches vom Feinsten. Als Christian Hasucha während seines Vortrags feststellt, dass er die finalen Abbildungen zur "Pulheimer Rochade" vergessen hat mitzubringen, ist der Zuhörer Thorsten Goldberg zur Stelle, liefert die fehlenden Abbildungen mit seinem Internethandy und lässt es durch die Zuhörerreihen wandern. Da eingeführte Medien immer auch am Projekttext mitschreiben, stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die "Pulheimer Rochade" mit ihren ausgetauschten Schachquadraten vielleicht schon von Google-Earth inspiriert ist, und damit die militärische, vormals göttliche Perspektive für zivile Kunstprojekte verantwortlich geworden ist.

Vgl. Projektdokumentation Nr. 34 Pulheimer Rochade